Mehr als 50 Jahre nach dem Olympia-Attentat von 1972 in München beschäftigt sich eine internationale Forschungskommission mit einer umfassenden Aufarbeitung.
Mit dem Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Zivilisten Anfang Oktober 2023 wird Israel ein weiteres, blutiges Kapitel aufgezwungen. Mindestens 1200 Menschen sollen getötet worden sein, bis zu 200 Geiseln sollen die Angreifer vom Staatsgebiet entführt haben. Der Schmerz und das Leid dieser Tage dürften sich einmal mehr ins kollektive Gedächtnis Israels einprägen.
Zu einem anderen Attentat hat jüngst die Aufarbeitung begonnen – nach mehr als 50 Jahren. In Deutschland sind die Bilder nach wie vor präsent: Bewaffnete Terroristen auf den Balkonen des Olympischen Dorfes. Der zerstörte Hubschrauber auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck. Die Olympischen Spiele 1972 in München sollten ein Fest des Friedens werden und bleiben als Massaker in Erinnerung.
Beim Olympia-Attentat 1972 in München kam es zu einer Serie verheerender Ereignisse, bei der elf israelische Athleten von der palästinensischen Terrorgruppe “Schwarzer September” als Geiseln genommen und schließlich getötet wurden. Das Attentat fand während der 20. Olympischen Sommerspiele statt.
Am 5. September 1972 drangen acht Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ in das Olympische Dorf in München und das Quartier der israelischen Mannschaft ein. Dort nahmen sie elf israelische Athleten als Geiseln. Gewichtheber Josef Romano sowie Ringer und Trainer Mosche Weinberg wurden vor Ort erschossen. Zwei Sportlern gelang die Flucht.
Die Terroristen forderten die Freilassung von mehr als 200 inhaftierten palästinensischen Gefangenen in Israel sowie Andreas Baader und Ulrike Meinhof, die wegen ihrer Mitgliedschaft in der linksextremistischen Rote Armee Fraktion (RAF) inhaftiert waren.
Am Abend verließen die Terroristen mit den Geiseln das Olympische Dorf mit zwei Helikoptern in Richtung des Militärflughafens Fürstenfeldbruck, von wo aus sie nach Kairo, Ägypten, ausfliegen wollten. Der Befreiungsversuch durch deutsche Polizisten, teils als Besatzungsmitglieder getarnt und von Scharfschützen gedeckt, wurde jedoch abgebrochen und scheiterte auch an schlechter Kommunikation. Beim Schusswechsel warf ein Terrorist eine Handgranate in einen Hubschrauber, ein anderer schoss in den zweiten Helikopter. Die neun israelischen Geiseln wurden dabei getötet, ein Polizist sowie fünf der acht Terroristen starben.
Die drei verbliebenen Geiselnehmer wurden zunächst festgenommen, wenige Wochen später jedoch durch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Kiel“ freigepresst.
Den deutschen Sicherheitsbehörden wurde infolge des fehlgeschlagenen Einsatzes massives Versagen vorgeworfen.
Für weitergehende Informationen empfehlen wir das Magazin „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Ausgabe 26/2022, die Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung.
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Obwohl der Anschlag eine Zäsur in vielerlei Hinsicht gewesen ist, blieb eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung bislang aus. 51 Jahre nach dem Attentat soll sich das ändern: Die Bundesregierung hat jetzt ein internationales, achtköpfiges Forschungsteam beauftragt, sich mit der Vorgeschichte, dem Ablauf des Olympia-Attentats und den Folgen zu beschäftigen. Mit den Erkenntnissen, die über die drei Jahre der Projektlaufzeit gewonnen werden, solle ein „ehrlicher und faktenbasierter Umgang“ rund um den Anschlag 1972 ermöglicht werden, sagte Juliane Seifert, Staatssekretärin des Bundesinnenministeriums, bei einer Pressekonferenz im September in München am Münchener Institut für Zeitgeschichte (IfZ).
Bei dem Olympia-Attentat 1972 starben unter anderem elf Mitglieder der israelischen Vertretung. Es habe zwar davor und danach größere, schrecklichere Attentate auf Israelis gegeben, sagt Prof. Dr. Shlomo Shpiro von der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv, Mitglied der Kommission. Dennoch habe das Massaker einen besonderen Platz in der israelischen Erinnerungskultur. „München war eine Tragödie, ein Desaster mit gesellschaftlichem Ausmaß“, sagt Shpiro und sieht zwei ausschlaggebende Aspekte:
Zwar hat es zum Olympia-Attentat von 1972 bereits viel Forschung gegeben, sagt Prof. Dr. Christopher Young. Er ist Professor für Germanistik an der Universität Cambridge und Co-Autor des Buches „München 1972: Olympische Spiele im Zeichen des modernen Deutschland“. „Sie sind zu den meist studierten Olympischen Spielen avanciert“, sagt er. Die Kommission wolle nun eine systematische und umfassende Auswertung dieser Erkenntnisse vornehmen, sie gegebenenfalls ergänzen, korrigieren oder neue Kontexte hinzufügen.
Denn längst sind noch nicht alle Fragen geklärt. Young führt ein paar Beispiele auf, denen sie auch die Kommission widmen will:
Für Shpiro ist nach den bisher vorhandenen Erkenntnissen klar, dass auf allen Seiten Fehler gemacht worden seien. „Wir brauchen eine breitere Sichtweise auf die Geschehnisse“, sagt er daher. Deshalb sei es jetzt an der Zeit, die unbequemen Fragen anzugehen. Auch Archive in Frankreich, Italien oder Israel will die Kommission dafür betrachten.
Zum Forschungsgegenstand zähle indes auch die Meta-Ebene. „Wir wollen gucken, wie das Attentat die Außenpolitik beeinflusst hat“, erklärt Young. Dazu zählten etwa die deutschen Beziehungen zu den arabischen Ländern, die damals gerade wieder aufgenommen worden waren, oder die (Nicht-)Anerkennung Palästinas als eigenständiger Staat. Auch die Prägung der olympischen Denkmuster und Sicherheitskonzepte könne untersucht werden – erst 2021 hatte es eine Schweigeminute für die Opfer gegeben.
Ein anderer Punkt betrifft den unrühmlichen Umgang Deutschlands mit dem Olympia-Attentat von 1972: Fast 50 Jahre lang mussten die Hinterbliebenen der Opfer auf eine Entschädigung durch die Bundesrepublik warten; im Vorjahr hat das Innenministerium nun 28 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und in Verbindung mit einer Entschuldigung die Aufarbeitung versprochen. „Es verdient eine eigene gesellschaftliche Analyse, die Beharrlichkeit der Hinterbliebenen darzustellen“, sagt Young.
Entscheidend für die angekündigte umfassende Aufarbeitung wird indes der Quellenzugang. „Die Bestände sind teils noch immer gesperrt“, gibt Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, zu bedenken. Er spricht daher von einer zentralen Aufgabe, für die entsprechenden Dokumente eine Deklassifizierung zu erhalten oder Schutzfristen von bis zu 80 Jahren zu verkürzen; das Bundesinnenministerium habe hier volle Unterstützung zugesichert und auch mit den bayerischen Behörden liefen gute Gespräche. Der bisherige Umgang hier habe bei den Hinterbliebenen „viele Dissonanzen erzeugt“. Auch diese Erfahrungsgeschichte wolle die Kommission sichtbar machen:
Erinnerung braucht Klarheit und Wahrheit. Das ist keine einfache Aufgabe.
Noch immer würden Angehörige nicht alle Einzelheiten der Obduktionsberichte kennen. Shpiro sprach außerdem von Asservaten wie Armbanduhren und Eheringen, die noch immer nicht zurück bei den Angehörigen seien. „Das sind ganz profane Sachen und es wird einfach kein Zugang gewährt“, wundert er sich.
Der Bericht der Forscher:innen könne neben einem Fazit des Gesamtprojekts auch Folgeprojekte anstoßen oder Handlungsempfehlungen geben.
Im Olympiapark in München wurde mehrere Jahrzehnte nach dem Olympia-Attentat ein Erinnerungsort eingeweiht. Piritta Kleiner hat ihn von 2014 bis 2017 kuratiert; vorangegangen war ein Architekturwettbewerb. „München tut sich schwer mit der Erinnerungskultur“, hat sie während ihrer Arbeit festgestellt. Die Gedenkstätte liegt nur unweit des Tatortes an der Connollystraße 31. Horst Seehofer hatte sie 2012 versprochen, nachdem der damalige bayerische Ministerpräsident eine Gedenkfeier in Tel Aviv besucht hatte. „Er muss sehr beeindruckt gewesen sein“, sagt Kleiner.
Deutschland sei zwar in diesem Fall nicht Täter, habe aber sein Versagen lange kaschiert. Das habe sich auch während ihrer Arbeit gezeigt. „Es hat starke Anwohner:innenproteste gegeben, das Thema war nicht gewollt“, erinnert sich Kleiner. In einem langen Prozess seien zahlreiche Gespräche und moderierte Workshops notwendig gewesen. Die Kritik bezog sich vorrangig auf den Standort am Conollyhügel, den Studierende als zu nah an ihren Wohnheimen betrachteten und ihren Schlittenhügel erhalten wollten. „Es gab auch antisemitische Ressentiments“, merkt die Kuratorin an. Der Kompromiss war schließlich die heutige Form mit angepasster Architektur auf dem Lindenhügel.
Der Erinnerungsort stellt die Biografien der Opfer in den Vordergrund. Mit Unterstützung der Angehörigen gehört zu jeder Texttafel ein persönlicher Gegenstand mit Bezug zur sportlichen Karriere der ermordeten Athleten, von denen zwei in Palästina geboren wurden. „Man erfährt auch etwas zum Einwanderungsland Israel“, sagt Kleiner mit Blick auf die Migrationsgeschichten der weiteren Opfer. Mit Dokumenten und Videos rekonstruierte sie außerdem das Attentat und bietet eine sehenswerte Zusammenfassung. Im Vordergrund stehen dabei „Absurditäten“ im Umgang mit den Geschehnissen: Als bereits die ersten zwei Toten zu beklagen und die Geiseln in den Händen der Terroristen waren, wechselte das Fernsehen noch zum Springreiten.
Rund um den Erinnerungsort patrouilliert regelmäßig die Polizei, er wird zudem mit Kameras überwacht.
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Beitrag veröffentlicht am Oktober 26, 2023
Zuletzt bearbeitet am Oktober 26, 2023
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