Zainab Entezar zählt zu den ersten Afghan:innen, die über das Bundesaufnahmeprogramm nach Deutschland kamen. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Eine Glasbox symbolisiert den Schmerz. Zainab Entezar sitzt in einem sporadisch eingerichteten Raum im bayerischen Thurmansbang mit zwei Betten, die zu einem Doppelbett zusammengeschoben sind, drei Spinden, einem Tisch und zwei Stühlen. Die mit Trockenfrüchten gefüllte Glasbox steht neben einem verzierten Foto. “Ich habe sie dir mitgebracht, um etwas damit auszudrücken”, sagt sie. Das kunstvoll gearbeitete Behältnis habe auf der Reise von Afghanistan über Pakistan nach Deutschland einige Risse davongetragen, erklärt Entezar:
“Das ist ein Sinnbild für uns: Wenn man aus der Ferne schaut, sieht alles gut und schön aus; wir sind jetzt in Sicherheit. Wenn man näher kommt, sieht man, wie kaputt und zerbrochen wir eigentlich sind.”
Sie schaut sich im Raum um und deutet auf verschiedene Objekte: Die Bilder, ihre Kamera mit den zwei Objektiven, das Notebook mit vier Festplatten, die Glasbox, ihre traditionelle Kleidung… ” Das ist alles, was ich von meiner Heimat noch habe. Mein ganzes Leben ist jetzt in diesem Raum”, sagt Entezar. Die ersten Tage in Deutschland seien daher auch ganz furchtbar gewesen; sie habe gespürt, was sie alles zurücklassen musste – und wen: “Meine Familie, meine Mutter vor allem, ist jetzt so weit weg.“ Zwar waren auch die Reisen zwischen ihrem Wohnsitz in Kabul und ihrer Heimat in Herat mit 800 Kilometer Entfernung mit langen Fahrtzeiten verbunden. „Aber wir konnten uns immer einfach besuchen“, merkt Entezar an. Die neue Realität sieht gänzlich anders aus, wie sie beschreibt. „Jetzt weiß ich nicht, wann ich sie wiedersehen werde.”
In der letzten Septemberwoche hat die Bundesregierung die ersten sechs nachweislich gefährdeten Afghan:innen über das Bundesaufnahmeprogramm (BAP) nach Deutschland evakuiert. 2021, kurz nach der Machtergreifung der Taliban im Koalitionsvertrag versprochen, erfolgte die Ankündigung der BAP erst im Oktober 2022. Danach passiert ein Jahr lang nichts. Zainab Entezar zählt zu den ersten Evakuierten.
In ihrem Zimmer in Thurmansbang kramt sie in einem der Spinde und holt ein zerbrochenes Kamerastativ hervor: “Das ist kaputtgegangen, als ich vor den Taliban weggerannt bin. Nur meine Kamera konnte ich schützen”, sagt sie und macht eine umarmende Bewegung. Wieso sie das defekte Teil mitgenommen hat? “Vielleicht kann ich es für einen Film gebrauchen”, sagt sie.
Aktuell sind zwei davon in der abschließenden Bearbeitung: In einem thematisiert Entezar die Frauenproteste in Afghanistan, die noch unter den Taliban gegen ihr frauenfeindliches Regime andauerten. Er erzähle “ein bisschen von mir selbst und vor allem von den Heldinnen in Afghanistan”.
Für ihre Arbeit ging Entezar die Risiken bewusst ein. Sie erinnert sich an einen besonders einprägsamen Tag: Ihr kleiner Sohn musste zu Impfungen, die mit 18 Monaten vorgeschrieben sind. Ihr Mann habe den Impftermin mit ihm wahrgenommen. Sie sei in der Stadt unterwegs gewesen: “Es gab zwei Frauenproteste am selben Tag in unterschiedlichen Stadtteilen. Bei einem Protest wurden Journalist:innen von den Taliban verhaftet, beim anderen auf die Teilnehmerinnen geschossen.” Entezar hatte Glück; sie blieb unverletzt und auf freiem Fuß. Sie sagt dazu:
Ich wusste, dass ich hätte sterben können. Aber ich hätte mir nie verziehen, wenn ich die Proteste nicht dokumentiert hätte. Ich hatte auch Zugang zu den Orten, an denen Frauen diese planten und die anderen Journalisten verschlossen waren.
Fünfmal hat hat die 29-Jährige seit Februar 2022 die Stadt und achtmal die Wohnung gewechselt; stets auf der Flucht vor den Taliban. Die Terror-Herrscher suchten wegen ihrer dokumentarischen Arbeit gezielt nach nach der Filmemacherin.Andere Journalistinnen und Aktivistinnen waren längst verhaftet worden, eine ihrer Protagonistinnen wurde von einem Talib angeschossen. “Ich war mir sicher, dass sie mich umbringen”, sagt sie – und genau deshalb habe sie sich selbst gefilmt: “Ich wollte, dass die Welt draußen versteht, was passiert ist, wenn ich tot bin und uns alle nicht vergisst. Die Menschen müssen wissen, dass es in Afghanistan Gender-Apartheid gibt, und all die Verbrechen gegen Frauen kennen”, sagt sie.
Wer, wenn nicht sie – eine Frau aus Afghanistan – könne die Stimme für Frauen des Landes sein und deren Stimmen weitertragen? “Ich weiß, wie es ist, als Frau in diesem Land zu leben und ich habe die Möglichkeit, mit meiner Arbeit diese Stimmen zu teilen.” Jedes ihrer bisherigen Werke – mehrere davon bereits auf deutschen Filmfestivals ausgestrahlt – habe sich mit Frauen befasst; mit wahren Geschichten, mal nacherzählt und mal komplett dokumentarisch.
Ob sie glaubt, dass Filme die Welt verändern können? “Ganz bestimmt”, sagt Entezar und nickt mit leuchtenden Augen: “Das Einzige, Einzige, Einzige, was wirklich die Welt verändern kann, das sind die Medien. Denn wodurch erfährt man sonst, was in der Welt passiert, vor allem in Kriegsländern wie Afghanistan oder Syrien?” Den Film sieht sie dabei als das stärkste Medium, um Menschen zu erreichen.
Für das Filmemachen hat sich Entezar bereits als Achtjährige begeistert. Sie entwarf erste kleine Drehbücher und belegte als 14-Jährige einen Kamerakurs. Alles andere brachte sie sich durch Youtube-Videos selbst bei; das Regieführen und Skriptschreiben etwa. Ihrem Vater gefiel das gar nicht. “Als ich 16 Jahre alt war, sagte er mir, wenn ich irgendwann mal einen Film mache, dann bringt er mich um”, erinnert sie sich. Er sei ungebildet, könne nicht einmal seinen eigenen Namen schreiben.
Dann entschuldigt sie sich vorgreifend für ihre Wortwahl:
“Er denkt, dass eine Frau, die etwas mit Film zu tun hat, eine Nutte ist.”
Sie wird laut:
“Dabei bin ich doch keine Nutte. Ich trage Verantwortung, ich bin Kamerafrau, Regisseurin. Ich kann Geschichten und die Stimmen der Menschen weitergeben.”
Trotz der Drohungen ihres Vaters ließ sich Entezar nicht davon abhalten, ihren Traum zu verwirklichen. Sie begann 2014, an der Kabul Universität Journalismus zu studieren, noch im selben Jahr veröffentlichte sie ihren ersten Film: “Maryam”, die Geschichte einer jungen Frau. Direkt darauf legte sie mit “Home” nach, ein Werk, in dem sie autobiografisch erzählt, wie schwer es für sie war, als alleinstehende Frau eine Wohnung in Kabul zu finden. Einmal wurden sie und ihre Freundinnen bereits nach drei Stunden wieder hinausgeworfen, ein anderes Mal hielt das Mietverhältnis ein Jahr, dann wieder nur wenige Monate. “Es ist in Afghanistan anders als in Deutschland: Wenn man dort zur Miete wohnt, kann einen der Besitzer jederzeit rauswerfen. Man hat keine Sicherheit.” Obendrein seien die Wohnungen sehr teuer gewesen, wenn sie diese als Frauen-WG bezogen hätten.
Die Schwierigkeiten ließen nach, als Entezar mehr den gesellschaftlichen Normen entsprach. “Als ich 2018 geheiratet habe, wurde alles viel einfacher; die Preise sanken“, erinnert sie sich: „Die Ehe bringt Frauen in Afghanistan viele solche Vorteile.” Doch gleichzeitig berge sie Risiken. Aktuell schreibt Entezar ihr viertes Buch; darin behandelt sie die Schicksale dreier geschiedener Frauen. Eigentlich darf eine Frau sich in Afghanistan nicht scheiden lassen; sie gilt dann als ehrlos. Wagt eine Frau doch diesen Schritt, sieht sie sich vielen Problemen ausgesetzt – bis hin zum Mord durch Verwandte.
Und sonst? Mit der Evakuierung nach Deutschland durch das Bundesaufnahmeprogramm hat sich Entezar der Unterdrückung und der Gefahr entzogen. Nun verfolgt die Filmemacherin wieder große Pläne. Sie möchte nach Frankreich reisen, um ein weiteres, in Afghanistan begonnenes Filmprojekt fertigzustellen. Mit einer Ausbildung, am liebsten im Medienbereich, hofft sie, schnell eigenes Geld zu verdienen und die Sprache zu lernen. Für ihre Heimat bleiben hingegen nur Träume übrig, sie hat keine Vorstellung davon, wann sich dort jemals etwas verändern könnte:
In meiner Erinnerung gibt es nur Krieg, in der Erinnerung meiner Mama gibt es nur Krieg, in der Erinnerung meiner Großmama gibt es nur Krieg. Wir kennen keinen Frieden in diesem Land.
Was sie zu Menschen sagt, die behaupten, dass die Taliban zumindest den Krieg beendet hätten? Entezar reagiert wütend: “Sie bringen jeden Tag Menschen um. Manche direkt. Andere bringen sich selbst um. Aber wenn ein Mädchen sich umbringt, weil es nicht zur Schule gehen darf, oder eine Frau sich umbringt, weil sie nicht arbeiten gehen darf, dann haben die Taliban sie doch auch getötet. Das ist auch Krieg!”
Sie hofft, dass Afghanistan eines Tages echten Frieden erleben darf.
1000 Menschen sollte es monatlich in Sicherheit bringen: So war es angekündigt, das Bundesaufnahmeprogramm. Seit seinem Start am 17. Oktober 2022 ist jedoch wenig diesbezüglich passiert. Stand 4. Oktober 2023 sind 13 Personen nach Deutschland eingereist, rund 600 haben eine Aufnahmezusage erhalten, gibt die Pressestelle des BMI auf Anfrage Auskunft.
Entezar selbst erhielt ihre Aufnahmezusage im März 2023, nachdem sie zunächst erfolglos versucht hatte, von Februar 2022, ein Visum für ein sicheres Land zu beantragen. Doch die Aufnahmezusage half ihr zu diesem Zeitpunkt wenig: Deutschland verhängte Ende März 2023 einen dreimonatigen Ausreisestopp. Ihr blieb nur, auf eigene Kosten nach Pakistan zu reisen und dort ebenso auf eigene Kosten eine Unterkunft für sich und ihre kleine Familie zu suchen, um zumindest etwas mehr Sicherheit zu haben. Zuvor hatten sie zunächst acht Monate auf Pässe und nochmals rund sechs Monate auf ihre Pakistanvisa gewartet – bei diesen Schritten unterstützt die deutsche Regierung auch anerkannte Gefährdete nicht. Nach einem Sicherheitsinterview Ende August durfte sie schließlich am 26. September mit Mann und Sohn ein Flugzeug nach Deutschland besteigen.
Ein Pressesprecher des BMI bezieht Stellung: „Mit dem Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan wurde ein langfristiges und strukturiertes Verfahren aufgesetzt, um die weitere Aufnahme von gefährdeten Afghaninnen und Afghanen zu ermöglichen.“
Seit dem Start des Programms hätten sich zunächst die neuen Strukturen und Verfahren etabliert – unter höchst komplexen Rahmenbedingungen in Afghanistan, etwa ohne eine Auslandsvertretung vor Ort und übliche Unterstützungsstrukturen. „Mit neuen Kooperationsformen, insbesondere einer engen Einbindung der Zivilgesellschaft, und einem digitalen Vorschlagsverfahren hat die Bundesregierung ein komplett neues Verfahren auf den Weg gebracht“, führt er aus. Zwischenzeitlich seien 13 Menschen im Rahmen des Programms eingereist (Stand 04.10.2023). Mit den erfolgten ersten Einreisen sei eine weitere wichtige Etappe zur fortgesetzten Umsetzung des Programms genommen worden. Weitere Einreisen seien in der Vorbereitung: „Die Umsetzung von Ausreisen aus Afghanistan hängt jedoch weiter von vielen äußeren Faktoren ab, die die Bundesregierung nur bedingt beeinflussen kann. Vor diesem Hintergrund ist auch keine Prognose zu den Ausreisezahlen möglich.“
Beitrag veröffentlicht am Oktober 11, 2023
Zuletzt bearbeitet am Oktober 11, 2023
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
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