Deutschland hat gefährdeten Afghan:innen Visa zugesichert. So steht es im Koalitionsvertrag. Während das Bundesaufnahmeprogramm schleppend anläuft, sieht sich eine Gruppe Gefährdeter ganz anderen Problemen ausgesetzt.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Wenig bemerkt von der breiten Öffentlichkeit haben in den letzten Monaten das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt die Wirkung von Aufnahmezusagen von mehreren Dutzend afghanischen Juristen vorübergehend ausgesetzt. Damit lässt Deutschland anerkannt gefährdete Menschen im Stich, denen die Ämter eine konkrete Aussicht auf ein Visum gestellt hatten.
Darunter sind ehemalige Staatsanwälte wie Romal M.* (Name geändert), dessen Fall seit 22. März erneut geprüft wird. Er habe seinen Beruf ernstgenommen, sich in Afghanistan für Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, gegen Schwerbrecher ermittelt. Vielfach habe er in Prozessen erfolgreich auf lebenslange Haftstrafen plädiert.
Unter den Verurteilten waren einige Taliban und taliban-nahe Verbrecher, die nach Machtübernahme freikamen. „Die suchen mich jetzt, um sich an mir zu rächen“, sagt M. und erklärt:
Sie denken, dass ich derjenige bin, der ihnen das angetan hat. Sie verstehen die Rolle eines Staatsanwalts nicht.
Im Juli 2022 sei schließlich ein Selbstmordattentat auf ihn verübt worden, das er glücklicherweise überlebt habe. Danach sei er in den Iran geflüchtet, dort aber aufgegriffen, verprügelt und abgeschoben worden. Aktuell hält sich M. mit Frau und Kindern bei Verwandten versteckt. Eigenes Geld hätten sie nicht einmal mehr für Lebensmittel. Alle Ersparnisse gaben sie für Visa ins Nachbarland Pakistan aus; dort hoffte die Familie auf eine schnelle Weiterreise nach Deutschland.
Die Nachricht, dass Deutschland seine zugesagte Aufnahme vorübergehend aussetzt, traf den 35-jährigen Familienvater wie ein Schlag ins Gesicht. „Ich war über Nacht nach Pakistan gereist, als ich morgens die E-Mail entdeckt habe, dass ich dort keine Unterstützung erhalten würde“, erinnert er sich. Wenige Tage später sei er daher notgedrungen wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. In völliger Ungewissheit hoffte die Familie nun Tag für Tag auf eine Nachricht aus Deutschland. „Ich möchte auch betonen, dass ich offen für Nachfragen bin. Ich stelle gern jederzeit weitere Unterlagen zur Verfügung. Aber mir wird leider gar nichts zu dem aktuellen Verfahren mitgeteilt und wie ich daran mitwirken könnte“, sagt M..
Tilly Sünkel von der Organisation „Kabul Luftbrücke“ kommentiert die Lage: „Angehörige des Justizsektors sind eine der am stärksten gefährdeten Gruppen in Afghanistan. Genau aus diesem Grund haben viele ursprünglich und gerechtfertigt eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten.“ Die Tatsache, dass diese Zusagen jetzt kollektiv erneut in Prüfung sind, und damit derzeit ungültig, bezeichnet Sünkel als eine Respektlosigkeit, Engstirnigkeit und Verantwortungslosigkeit in Hinblick auf die frühere Tätigkeit dieser Personen, deren Situation, Verfolgungslage und schlichtweg Überleben: „Dieser Generalverdacht ist durch nichts zu rechtfertigen.“
Sünkel führt die Maßnahme auf eine Artikelwelle in rechtspopulistischen Medien zurück. Vorausgegangen war der Leak eines Schreibens des deutschen Botschafters in Pakistan. Den enthaltenen Vorwurf entkräftete bereits Christofer Burger, Sprecher des Auswärtigen Amtes, auf der Bundespressekonferenz am 5. April:
Nein, es sind nicht reihenweise Scharia-Richter nach Deutschland gekommen.
Auch führte er aus, dass es sich bei den Missbrauchsversuchen, die bislang festgestellt worden seien, um „täglich Brot“ aller Auslandsvertretungen handle. Von Gefährder:innen fehlte in diesen Ausführungen jede Spur.
Den dreimonatigen Aufnahmestopp für gefährdete Afghan:innen wollten die Behörden nutzen, um neue Sicherheitskriterien festzulegen. Der zeitliche Zusammenhang zu den Veröffentlichungen legt nahe, dass sich die Überprüfung ganzer Gruppen von Menschen aus dem afghanischen Justizsektor sich auf diesen widerlegten Vorwürfen begründete. Das Auswärtige Amt (AA) und das Bundesinnenministerium (BMI) wollen den Zusammenhang auf mehrfache Nachfrage nicht bestätigen.
Die Kommunikation über Umwege ist dabei Teil des Problems, das auch Sünkel von der „Kabul Luftbrücke“ beanstandet: „Hilfsorganisationen erfahren neue Regelungen nur aus den Nachrichten, betroffene Personen finden wochenlang keine Infos auf den Webseiten der Botschaften.“ Mit der Aufnahme von bedrohten Menschen aus Afghanistan werde umgegangen, als handle es sich um einen Gefallen und keine über die 20 Jahre des NATO-Einsatzes gewachsene Verantwortung: „Als hätten wir keinen chaotischen Truppenabzug hingelegt und dann tausende Verbündete zurückgelassen.“
Mindestens 50 Fälle von Juristen sollen es sein, in denen Aufnahmezusagen vorübergehend ausgesetzt wurden, um die Fälle erneut zu prüfen. Diese Zahl ist zumindest der Kabul Luftbrücke bekannt, die sich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 dafür einsetzt, gefährdete Menschen aufzunehmen. Weitere Fälle sind sehr wahrscheinlich. Das legen Hintergrundgespräche mit weiteren Personen nahe, die in die Aufnahmeprogramme involviert sind, aber nicht zitiert werden wollen.
Dabei bedeuten selbst 50 Juristen in Prüfung deutlich mehr Betroffene. Zu jeder „Hauptperson“, gehört auch deren Familie. In Samir A*.s (Name geändert) 1Der Kontakt zu Samir A. kam eher zufällig über Twitter zustande. Die Autorin verfolgt seine Situation daher schon seit April. Die Interviews für diesen Artikel fanden am 4. Juli statt. Bis zum Erscheinen dieses Artikels hatte sich die Lage der zitierten Juristen nicht verändert; sie leben weiterhin in völliger Unklarheit. sind das der ehemalige Staatsanwalt selbst, seine vier Kinder (das älteste elf Jahre alt) und seine – zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels in der 34. Woche schwangeren – Frau. Noch im März sah alles gut für ihn aus; er erhielt die Aufnahmezusage mit der Information, dass er sich selbst um die Visa zur Ausreise über die Drittländer Iran oder Pakistan bemühen müsse. Ende des Monats hatte er diese dann endlich.
Die Freude endete jäh mit dem Ausreisestopp, der von Innenministerium und Auswärtigem Amt beschlossen wurde und pauschal alle Gefährdeten betraf. A. bat um Hilfe, schrieb die deutschen Botschaften in beiden Ländern an, das AA, die Servicestelle der Regierung, die ihm die Aufnahmezusage zugeschickt hatte. „Statt Hilfe erhielt ich widersprüchliche Informationen“, schildert er. So habe er einerseits eine Standardmail erhalten, die über den Ausreisestopp informierte mit der beruhigenden Anmerkung, dass davon nicht seine Aufnahmezusage beeinflusst sei.
Andererseits erreichte ihn am 10. April die persönliche Nachricht, dass ihm und seiner Familie aktuell keine Unterstützung zustehe; auch nicht vorübergehend im Drittland, da seine Aufnahmezusage erneut geprüft werde. „Ich mache mir große Sorgen um meine Frau. Ich möchte, dass sie ihr Kind in Sicherheit bekommen kann und die nötige medizinische Versorgung erhält“, betont A.. Als Beleg für die Schwangerschaft schickt er die Ergebnisse der letzten Ultraschalluntersuchung mit. Wie es um die erneute Prüfung seines Falls steht, weiß der Familienvater nicht
Zuletzt wurde er gebeten, von weiteren Nachfragen abzusehen. Nur eines ist sicher: Samir A.s Frau wird in Afghanistan ihr Kind gebären; ohne gesicherte medizinische Versorgung.
Auch Roshan P.* (Name geändert) erhielt seine Aufnahmezusage am 3. März, am 23. März wurde er informiert, dass diese erneut geprüft werde. Da hatte er allerdings bereits für teures Geld pakistanische Visa beantragt und diese auch erhalten; 1000 Dollar zahlte er pro Familienmitglied. „Ich erhielt die Information erst, nachdem ich der GIZ2Die deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit ist ein Unternehmen, deren einziger Gesellschafter der deutsche Staat ist mitgeteilt habe, dass ich nun Visa für meine ganze Familie hatte“, schildert er. Die E-Mail habe keinerlei Infos darüber erhalten, wie lange der Überprüfungsprozess dauern und wie genau er ablaufen solle.
Erst am 6. Juli wurde Roshan P. erneut kontaktiert; von einer unbekannten Telefonnummer. Ein Mann rief an, der (iranisches) Persisch sprach und nach seinen Ausbildungsunterlagen fragte. Diese solle er per E-Mail schicken. Auf Rückfragen habe er nicht reagiert. Roshan P. nutzte die Gelegenheit, in der E-Mail mit seinen Unterlagen erneut nachzuhaken, wie lange die Überprüfung noch dauern werde. Eine Antwort blieb bislang aus.
Sowohl das AA als auch das BMI äußern sich zu den erneuten Überprüfungen von Jurist:innen nicht im Detail. Beide gehen nur allgemein auf die Prüfverfahren von Aufnahmezusagen ein. Wie diese im Idealfall verlaufen und wie lange der Prozess dauern soll, bleibt ebenfalls offen. Aus dem BMI heißt es: „Aufnahmezusagen für Personen, die im BAP AFG aufgenommen werden sollen, stehen unter dem Vorbehalt, dass sich im weiteren Verfahren keine sicherheitsrelevanten Erkenntnisse ergeben und das Visumverfahren erfolgreich durchlaufen wird.
Gleiches gelte für die Aufnahmen in den anderen Verfahren zur Aufnahme: „So kann es in jeder Phase der Prüfung zu einem Ausschluss aus dem Verfahren kommen, wenn sich entsprechende Erkenntnisse ergeben.“ Über diese Rahmenbedingungen würden die Personen umfassend vor dem Beginn des Ausreiseprozesses informiert, wenn sie die Aufnahmezusage erhalten: „Damit ist eine transparente Kommunikation gewährleistet, auch für den Fall, dass eine Aufnahmezusage zu widerrufen ist und die Personen nicht nach Deutschland einreisen können.“
Eine Sprecherin des AA betont: „Sicherheit hat bei den Ausreiseprozessen oberste Priorität. Zugleich ist sich die Bundesregierung aber natürlich auch der Bedrohungslagen bewusst, in denen sich die Aufnahmesuchenden befinden.“ Die Bundesregierung arbeite daher kontinuierlich an der Optimierung der Prozesse: „Im Normalfall durchlaufen Personen, die durch die Taliban-Machtübernahme bedroht sind und eine Aufnahmezusage erhalten, unproblematisch das Ausreiseverfahren und können im Anschluss nach Deutschland einreisen.“3Eine umfassendere, aber ebenso unkonkrete Stellungnahme erfolgte unter anderem bei der Regierungspressekonferenz am 31. Mai 2023.
Noch vor wenigen Jahren sah die deutsche Rolle in Afghanistan positiver aus. Unter anderem die GIZ als auch deutsche NGOs waren in die Förderung des Rechtsstaats involviert, führten Trainings und Schulungen durch. Kaihan F. War einer von denen, der zehn Jahre lang Schulungen für Juristen abhielt, 2010 graduierte er selbst in Jura. Er blickt zurück auf die Entwicklung, die er von den aktuellen Geschehnissen nicht überschattet sehen möchte.
„Vor 20 oder 25 Jahren war es in Afghanistan noch normal, dass man jemanden umgebracht hat, um die Macht zu ergreifen“, sagt er. Doch in der darauffolgenden Zeit hätte es mit den Präsidenten Hamid Karzai und Ashraf Ghani Beispiele gegeben, wie es auch anders gehe. „Ich will damit nicht die Korruption leugnen oder sagen, dass es keine Probleme gab. Ich denke allerdings, dass es ein sehr wichtiges Symbol war, wie Karzai das Präsidentschaftsamt feierlich und friedlich übergeben hat.“ Auch sonst habe es einen Haltungswechsel in der Breite der Bevölkerung gegeben. Das will Kaihan F. nun auch am Widerstand gegen die Taliban ablesen: „Selbst jetzt sieht man kaum Waffen bei den Protesten, diese sind vielmehr friedlich und gewaltfrei. Nicht, weil wir die Taliban mögen, sondern weil wir zivilisiert bleiben.“
Auch sonst zeichnet er positive Entwicklungen nach. „Anfang der 2000er-Jahre galt das Gesetz der Waffen, es wurde dann von der Rechtsstaatlichkeit abgelöst“, fasst er zusammen. Dabei habe auch die Bildungsarbeit, die unter anderem die NGO leistete, für die er tätig war, eine große Rolle gespielt: „Noch 2010, als ich anfing, beruflich durch Provinzen zu reisen, gab es vielerorts Richter, die nur einen High-School-Abschluss oder nur einen normalen Schulabschluss hatten. Gegen Ende der Republik mussten Richter einen Abschluss in Rechtswissenschaften oder Schariarecht haben und zusätzliche juristische Prüfungen bestehen.“
Bei den Terminen in den Provinzen seien im oft vor allem Vorurteile begegnet. „Mir wurde oft gesagt, Menschenrechte seien doch unislamisch“, erinnert er sich. Dabei habe sich dann im Gespräch herausgestellt, dass es gar nicht um den Inhalt der Menschenrechte gehe, sondern den Titel als solches: „Der wurde irgendwie mit dem Westen verbunden, als seien diese Werte importiert.“ In seinen Schulungen habe er über dieses Missverständnis aufklären können, sagt er: „Am Ende haben mir dann alle aufmerksam zugehört und gemerkt, dass sich Menschenrechte sehr wohl mit dem Islam vereinbaren lassen.“ Manche hätten sich gar bei ihm entschuldigt; für ihre anfängliche Abwehrhaltung.
Auch der Einfluss von Anwält*innen habe zugenommen. Strafverteidiger*innen waren noch nicht lange bekannt, aber in den letzten Jahren sei es immer normaler geworden, einen Anwalt vor Gericht und bei Ermittlungen zu haben: „Das ist in den letzten Jahren üblich geworden, zuletzt auch im Zivilrecht.“
Auch Romal M. hatte einst große Träume: “Als ich klein war, wurde uns unser Haus weggenommen. Es gab damals keine Stelle, an die wir uns wenden konnten. Damals habe ich beschlossen, dass ich einmal etwas gegen Ungerechtigkeit tun würde.” Als er älter geworden sei, habe sich der Traum dann konkretisiert und schließlich sei er tatsächlich 15 Jahre lang als Staatsanwalt aktiv gewesen und habe so ganz konkret einen Beitrag gegen Ungerechtigkeit und für Rechtsstaatlichkeit leisten können.
Es mache ihn traurig, dass es mit all den Fortschritten nun vorbei ist:
Es ist schmerzhaft zu beobachten, wie die ehemaligen Richter und Staatsanwälte jetzt als Ungläubige verfolgt werden, das Justizsystem wurde abgeschafft; das ist schlimmer als das Taliban-Regime in den 90er Jahren.
Beitrag veröffentlicht am August 2, 2023
Zuletzt bearbeitet am August 2, 2023
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
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