Wandel oder weiter so? Kılıçdaroğlu oder Erdoğan? Bewohner:innen in Istanbul zeigen sich bei einer Straßenumfrage gespalten.
In der Woche vor den türkischen Parlaments-und Präsidentschaftswahlen hüllt der Himmel Istanbul in tristes Grau ein, die Temperaturen sind kühl. Fadime steht vor dem Eingang der kleinen Kneipe, in der sie arbeitet und putzt dieTische. Als die unerwarteten Gäste kommen, begrüßt sie diese herzlich, entschuldigt sich, dass sie nur wenig Englisch spreche.
Mit Hilfe eines Übersetzungsgeräts verläuft dann das weitere Gespräch im zu dieser Zeit leeren Wirtsraum. Die 25-Jährige aus Adana schildert, dass sie eigentlich Modedesign studiert hat. “Aber die wirtschaftliche Lage ist schlecht”, begründet sie, dass sie nun hier stattdessen in einer Kneipe mit anpackt. “Die meisten Menschen, die hier studieren, können danach nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten.”
Auf die Frage, was sie zur politischen Lage sagt, holt sie ihren Onkel, der ein paar Tische entfernt sitzt und ebenfalls hier arbeitet. Der sagt zuerst nur das englische Wort “finish” und macht eine energische Handbewegung dazu. Er wiederholt die Geste mehrfach, sie erklärt dann für sie beide: “Wir wollen, dass eine neue Ära beginnt. Die Türkei hat schlimme Zeiten durchgemacht. Wir wollen einen neuen Präsidenten.”
Ihre Hoffnung? “Revolution. Wir wollen, dass es der Wirtschaft gut geht. Wir wollen ein angenehmes Leben, ein freies Leben.” Mit Freiheit meine sie vor allem Meinungsfreiheit, denn aktuell gebe es die nicht: “Es ist uns unangenehm, unsere Ansichten zu teilen.” Ihr Onkel bekräftigt im Hintergrund auf Türkisch: “ceza, ceza, ceza!” (“Bestrafung, Bestrafung, Bestrafung”). Eine falsche Bemerkung in den sozialen Medien ziehe oft schon Strafen mit sich, ihre engsten Freunde von ihr hätten deshalb schon vor Gericht gestanden, sie bekräftigt die Schilderung durch die Geste vom Tippen auf einer Tastatur und überkreuzten Handgelenken wie bei einer Verhaftung.
“Erdoğan sollte euch nicht sehen. Sie werden sofort kommen und uns verhaften”, untermauert sie dann noch an die beiden Reporter:innen aus Deutschland gerichtet.
Einen Tag und einige Stunden später erneut in einer Istanbuler Kneipe. Diesmal ist der Innenraum leer, weil die letzte Runde schon ausgerufen wurde. Eine Gruppe Mitarbeiter unterhält sich auf Arabisch, verrät dann, wo sie herkommen: aus den syrischen Städten Idlib, Deir ez Zor, Damaskus und dem libanesischen Beirut.
Wie sie zu den Wahlen stehen? “So Gott will, wird Erdoğan Erfolg haben”, sagt H. aus Damaskus, Erdoğan sei gut für sie, der Staat schütze sie. Das türkische Volk hingegen denke anders, viele seien rassistisch und sagten, dass es zu viele Syrer:innen in der Türkei gebe: “Sie mögen keine Araber; sie wollen uns tot sehen. Die Türken wollen, dass jemand wie Baschar die Syrer tötet.” A. ist ein wenig anderer Meinung, was Erdoğan angeht: “Wir wurden auch vor dem Wahlkampf schon schlecht behandelt in der Türkei; es war zur Regierungszeit von Erdogan nie gut hier für uns.”
Aber auch er wünsche sich sehr, dass dieser die Wahl nochmals gewinnen werde, denn: “Die Opposition macht Wahlkampf gegen uns. Ich habe ein Video gesehen, in dem Kılıçdaroğlu gesagt hat, dass er verspricht, alle Syrer und Afghanen abzuschieben.” Die Syrer spürtens, dass solche Aussagen von Politiker:innen die Stimmung der Bevölkerung zusätzlich anheize; diesich gehe nun noch schlechter mit ihnen als Syrern um. Dabei lebten sie hier schon seit Jahren.
Die kleine Gruppe schildert, dass sie derzeit versuchten, jeweils 5000 Euro zu sparen. So viel Geld koste es zur Zeit, mit einem Schleuser nach Deutschland zu gelangen – und zwar über den gefährlichen Meerweg. “Dabei ertrinken immer noch Menschen, manche Kinder sterben im Wasser auch an Unterkühlung”, schildert A.
Einen Tag später beim Warten auf den Bus schildert Sami Schwarz – der als syrisches Adoptivkind in Deutschland aufgewachsen ist – dass die Syrer:innen „für alles herhalten“ müssten. Selbst an den Erdbebenschäden sollen – so das Narrativ, das derzeit kursiere – trügen sie die Schuld. „Man sagt, dass das Baumaterial aus Syrien gekommen sei und minderwertig war“, schildert er.
So gehe das schon seit Jahren; an jedem Problem seien die Syrer:innen angeblich schuld – dementsprechend negativ sei auch die Haltung der Türk:innen ihnen gegenüber. Er selbst fühle sich dennoch wohl hier, Türkisch habe er schnell gelernt in den zwei Jahren. „Ich bin von Deutschland hierher, weil ich meine Heimat vermisst habe, aber es dort immer noch zu unsicher ist, um zurückzukehren.“ Die Türkei sei sozusagen so nah wie möglich, das Lebensgefühl ähnlich:
In Deutschland habe ich nur funktioniert, hier lebe ich.
Was die Wahl angehe, hoffe er für sich persönlich, dass es keinen Regierungswechsel gebe und für das Land: „nur das Beste“. Er zweifle daran, dass die große Koalition, die hinter Kılıçdaroğlu stehe, überhaupt regierungsfähig sei. „Geopolitisch ist die Lage hier kompliziert; es ist nicht einfach, dieses Land zu regieren.“
Auch Faten, ebenfalls aus Syrien, hofft darauf, dass Erdogan Präsident bleibt. „Wenn er verliert, dann müssen wir das Land verlassen“, erklärt sie und dass es in Syrien immer noch sehr gefährlich sei. Zurückzukehren, das ist für sie daher keine Lösung. Sie nimmt einen Anruf entgegen, schaltet auf Video und zeigt ihr Handy vor; ihr Sohn ist am Apparat. Er lebt seit sieben Jahren in Hannover und möchte sich bald einbürgern lassen: „Dann hole ich meine ganze Familie nach, hoffentlich“, sagt er und verspricht abwechselnd auf Arabisch und Deutsch, dass alles gut werden wird.
Außerdem möchte er auch er noch die Lage in der Türkei kommentieren, denn zwei Aspekte verstehe er schlichtweg nicht: „Hier in Deutschland gibt es ja Sozialhilfe. Ich beispielsweise arbeite seit vier Jahren, aber manche lassen sich jahrelang bezahlen. Da kann ich ein bisschen verstehen, wenn die Deutschen ein Problem damit haben“, holt er aus. Doch in der Türkei, da gebe es kein Geld vom Staat, keine Sozialhilfe. Migrant:innen müssten Arbeit finden und haben, um dort leben zu können. „Sie helfen dem Land also vielmehr, einige haben eigene Firmen dort, viele geben ihre Arbeitskraft der türkischen Wirtschaft“, betont er.
Obendrein sei die Türkei doch ein muslimisches Land: „Wir Menschen sind alle gleich, aber hier kommt noch etwas dazu. Wir sagen immer, wir Muslime seien alle Brüder und Schwestern, alle gleich und dann werden die Syrer trotzdem so behandelt. Das darf eigentlich nicht möglich sein von Muslim zu Muslim.“Tatsächlich gibt es Türk:innen, die genau aufgrund der migrationsfeindlichen Linie dieser die Opposition wählen wollen. Ercan Özcan schildert, wie sich sein Stadtteil Beyoglu in den letzten Jahren verändert hat. „Ich bin 53 Jahre alt, ich lebe seit 53 Jahren in Beyoglu, seit 20 Jahren habe ich diesen Laden und seitdem hat sich viel verändert“, sagt der Händler
Früher hätten in diesem Stadtteil nur Einheimische und Menschen aus Europa gelebt. In den letzten Jahren seien Menschen dazugekommen, die eine andere Kultur hätten, aus Syrien und dem Irak. Sie seien laut, unfreundlich, respektlos. Er führt vor, wie diese im Unterschied zu einem Türken telefonieren würden, hält das Handy weit von sich, redet extralaut. „Ja, der Wirtschaft geht es schlecht“, räumt er ein, zeigt auf die Geschäfte neben seinem in der Passage, zählt die auf, die ebenfalls seit Jahrzehnten her sind und mit Blick auf die leeren Läden dazwischen sagt er: „und die anderen sind inzwischen weg.“ Auch die Inflation sei sehr hoch, die Lebensmittelpreise gestiegen, das sei nicht gut. Doch für Özcan ist eines klar: „Kultur ist wichtiger als Wirtschaft.“
Und es gibt auch Türk:innen, die sich wünschen, dass es keinen Regierungswechsel gibt. Da ist etwa ein Mitarbeiter des Künstlercafés in der Nähe von Özcans Laden, der sagt, dass es ihm gutgeht und er auf jeden Fall Erdogan wählen werde.
Da ist der Friseurkunde im Stadtteil Fatih, der betont, dass Erdogan dem Land viele Vorteile gebracht habe. „Ich möchte, dass die Infrastruktur weiter verbessert wird, die Metro ausgebaut“, betont er. Damit das passiere, müsse Erdogan Präsident bleiben. Schließlich habe er den jahrelangen wirtschaftlichen Aufschwung verantwortet und das Leben von Millionen Menschen verbessert; ganze Industrien wie die der Rüstungssektor florierten durch dank des Amtsinhabers.
Am Sonntag – oder spätestens nach der Stichwahl – wird sich zeigen, welches Lager jubeln darf.
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