Trotz des Krieges haben die Fußballmannschaften der ukrainischen Premier Liha den Spielbetrieb wieder aufgenommen. Zu Besuch beim FK Lwiw.
Erst der Stolz, dann die Trauer: Bevor der Ball rollt und der Fokus auf dem Sport liegt, steht für die Fußballvereine der ukrainischen Premier Liha in der Spielzeit 2022/23 ein neues Ritual an. Zuerst hallt die Nationalhymne durch das nahezu leere Stadion. Anschließend gedenken die Beteiligten ihren verstorbenen Fans.
90 Minuten Fußball – in Kriegszeiten keine Selbstverständlichkeit und doch von großer Bedeutung. Sie symbolisieren den Alltag, den sich die Menschen im Land wünschen. Gleichzeitig bieten sie den Fans, die wegen der Gefahr von Raketenangriffen nicht in die Arenen dürfen, Ablenkung. Auch wenn die Klubs aus den besetzen Gebieten in westliche Spielstätten ausweichen müssen. So versuchen die 16 Mannschaften der höchsten Spielklasse seit nunmehr 18 Spieltagen, unter diesen Bedingungen einen nationalen Wettbewerb auszutragen. Mitte März empfing der abstiegsbedrohte FK Lwiw als Tabellenletzter den Siebten, FK Krywbas Krywyj Rih; den symbolischen Anstoß durfte ein Kriegsversehrter ausführen.
In Überzahl und nach zweimaligem Rückstand holten die Gastgeber durch ein 2:2 (0:1) noch einen schmeichelhaften Punkt gegen einen technisch deutlich besser veranlagten Gegner (Zusammenfassung bei YouTube ansehen). Doch Trainer Oleg Dulub kochte nach Abpfiff1Nachtrag: Dulub wurde am Montag nach der Partie von seinen Aufgaben entbunden, wie der Verein mitteilte.: „Um ehrlich zu sein, bin ich wirklich verärgert.“ Die Mannschaft benötige Punkte, um die Rote Laterne abzugeben – und hat nun zwei liegen gelassen. Zum rettenden zwölften Rang fehlen bei einer Partie weniger nun fünf Zähler.
Wie andere Topklubs der Liga musste der FK Lwiw wegen des Krieges einige ausländische Spieler ablösefrei ziehen lassen. Gleichzeitig verlor Dulub mehrere Stammspieler an andere Teams, aufgefüllt wurde mit 14 vor allem Vereinslosen, Talenten sowie Akteuren aus unterklassigen Ligen, teilweise auch aus dem Ausland.
Entsprechend sah der Coach seine Mannen noch nicht auf dem notwendigen Niveau: „Wir würden unser Team gerne auf ein gleichwertiges Fitnesslevel und Spielverständnis bringen und wir müssen ein Team werden.“ In der Kürze der Zeit sei das schwierig gewesen. Zumal die Fans als „Herz des Spiels“ fehlten: Die Spiele werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgehalten. Auf den Tribünen fiebern nur wenige geladene Gäste wie Veteranen und Kriegsversehrte mit. Hinter dem Zaun tummeln sich Interessierte und Gästefans, die sich teilweise lautstark einbringen und etwas Stadionatmosphäre einbringen. „Wir warten darauf, dass sie zurückkommen, wenn wir den Krieg gewonnen haben“, zeigte sich der gebürtige Belarusse hier ganz ukrainisch.
Jurij Wernydub besiegte Real Madrid im September 2021 im Santiago Bernabeu als Trainer des FC Sherifs Tiraspol mit 2:1. Nach russischen Großangriff auf die Ukraine verließ er den Verein aus Transnistrien und trat den ukrainischen Streitkräften bei. Wenige Monate später übernahm er bei FK Krywbas Krywyj Rih, während er offiziell noch Teil der Armee ist:
“Die Ukraine ist mein Vaterland. Ich liebe sie sehr. Ich bekam die Chance, als Trainer zu arbeiten. Ich wurde nach Krywyj Rih versetzt und kann Armee und Fußball kombinieren.”
Trainer Krywyj Rih
Während eines Krieges Fußball zu spielen, sei eben auch Teil des Lebens. Keiner seiner Spieler habe Angst, schließlich gehe der Wettbewerb weiter. „Wir leben immer noch unser Leben dank der Soldaten und der Armee“, sagte Wernydub. Er erwähnte den Lytschakiwski-Friedhof nur wenige Minuten von der Spielstätte des FK Lwiw entfernt mit dutzenden Gräbern gefallener Soldaten: „Mein Herz tut weh, aber das ist das Leben, wie es ist.“
Drei Mal mussten Partien seiner Mannschaft bereits wegen Luftalarms unterbrochen werden. Die unverhoffte Pause bedeutet, in einem Schutzraum zu warten – und anschließend wieder zu kicken. „Das ist die Realität, in der wir leben, wir können ihr nicht entfliehen. Wir werden weiterhin Fußball für unsere Leute spielen, um ihnen zu helfen, abzulenken“, sagte Wernydub.
Letztlich befänden sich alle ukrainischen Klubs in der gleichen Situation. Der erfahrene Coach suchte im Gespräch jedoch den positiven Aspekt: „Was wirklich wichtig ist, ist, dass wir immer noch das tun können, was wir lieben, nämlich Fußball spielen. Ich möchte der Armee dafür danken, dass sie uns verteidigt und dafür gesorgt hat.“
Immerhin: Zumindest in Überzahl war es dem Schlusslicht gelungen, die Partie auf Augenhöhe zu gestalten. Bis zur Gelb-Roten-Karte für Krywbas‘ Mykyta Tatarkov (43.) – ein genauso unnötiges Foul an Lwiw-Keeper Oleksandr Rybka wie zuvor das an Denys Ustymenko, das zum 1:0-Elfmetertor durch Rifet Kapić geführt hatte (19.) – brachten die Hausherren wenig zustande. Das eigene Aufbauspiel endete häufig bereits im Mittelfeld. Ohne allzu großen Druck zu spüren, fehlten die Ideen.
Feinfüßiger zeigten sich da die Gäste aus Krywyj Rih, dem Heimatort des ukrainischen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj. Mit Stafetten, Dribblings und gelegentlich auch langen Bällen überwanden sie das Mittelfeld. Im letzten Drittel zeigten sie jedoch Ungenauigkeiten und brachten sich so um bessere Chancen. Durch einen zunächst von Vladyslav Bugay verschossenen und von Yaroslav Bogunov im Nachschuss verwandelten Foulelfmeter ließen sie den Gegner jedoch zurück ins Spiel kommen (74.).
In der Schlussphase nahm die Partie noch einmal an spielerischer Qualität zu. Erneut Kapić nach einem Angriff über den linken Flügel (79.) zum 2:1 für Krywyj Rih und Oleksandr Belyaev per Abstauber nach abgewehrter Flanke zum 2:2-Endstand (87.) boten noch sehenswerte Momente. Dass sich diese 90 Spielminuten nach echtem Sport anfühlten, lag allerdings vor allem daran, dass die Partie nicht wegen eines Luftalarms unterbrochen werden musste. Auch das kommt in Kriegszeiten immer wieder vor.
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