Die 16-jährige Hasina unterrichtet Zeichnen, seit sie nicht mehr die Schule besuchen darf. Die 23-jährige Kimia* (Name geändert) hat statt Journalismus Kunst für sich entdeckt und nutzt diese versteckt politisch.
Die 16-jährige Hasina hält offensichtlich wenig von der Verschleierungspflicht. Sie trägt zum Interview eine weite Jeanshose und ein weites Shirt mit halblangen Ärmeln, dazu ein sehr sehr loses Kopftuch.
Gleichzeitig ist auch sie nicht frei von den gesellschaftlichen Zwängen, die bereits vor der Talibanregierung Bestand hatten. Es ist warm im Raum, die Klimaanlage funktioniert wieder einmal nicht; Stromausfälle zählen in der Hauptstadt zum Alltag.
Hasina zieht kurz ihr Kopftuch herunter, fächelt sich Luft zu, drapiert es neu. Die Aussage, dass sie es hier nicht tragen müsse, irritiert sie. Sie deutet auf den aktuell leeren Stuhl des Übersetzers: „He is a boy.“ (Er ist ein Junge.) Mehr Worte braucht es für sie nicht, um zu erklären, dass sie vor einem fremden Mann nicht unverschleiert sein dürfe. Sie wechselt das Thema und zeigt die Bilder, die sie mitgebracht hat.
Realistische Motive mag sie am liebsten: Ein Bild voller Mädchen mit hellblauen Kopftüchern von hinten, eine Frau in hellblauer Burka von vorn, ein leicht kritisch schauender Mann daneben, eine Gasse voller gesichtsloser Menschen. Hasina erklärt: „Die Mädchen gehen zur Schule, die Frau mit Burka geht weg von der Schule, sie hat keine Rechte.“ Eine Buntstiftzeichnung zeigt zwei Frauen, traditionell gekleidet mit Kopftuch, auf einem Balkon, die eine liest der anderen vor.
Die 16-Jährige möchte dem Rest der Welt zeigen, dass auch jemand mit Hijab oder in afghanischer Kleidung lernen kann. „Gegen Vorurteile“, sagt sie, denn die würden Freundinnen von ihr im Ausland derzeit erleben, weil sie sich entsprechend kleideten
Das Kopftuch entscheidet nicht, was im Kopf darunter ist.
Seit einem Jahr haben die Taliban, die ihren international nicht anerkannten Staat „Islamisches Emirat Afghanistan“ nennen, wieder das Sagen in Afghanistan. Seitdem hat sich einiges verändert; bereits im Straßenbild ist das offensichtlich.
Selbst in der Hauptstadt Kabul, in der – so sagen es zumindest jene, die aus anderen Provinzen kommen – tendenziell weniger strenge Regeln und Kontrollen herrschen, weil hier die Weltöffentlichkeit am ehesten zusieht, sind Frauen aus der Öffentlichkeit fast gänzlich verschwunden. Wenn überhaupt, dann steigen sie schnell aus einem Taxi und steuern ein Café oder ein Einkaufszentrum an. Draußen auf der Straße sind sie die absolute Ausnahme. Ihre Gesichter auf Werbebildern oder den Beklebungen von Beautysalons und Bekleidungsläden sind entweder abgerissen, übermalt oder durch stark vereinfachte symbolhafte Zeichnungen ersetzt worden.
Aufgrund des Hijabdekrets, das vor allem mit Bildern von Niqabs und Burkas kommuniziert wird, also Verschleierungsformen, die lediglich die Augen freilassen, hat sich im Alltag durchgesetzt, dass diese Kleidung erstrebenswert sei. Lange Ärmel, lange Röcke oder Übermäntel, Kleidung, die die Figur kaschiert, gehört dazu. Taxifahrer nehmen Frauen, die Gesicht zeigen, gar nicht erst mit. Protest ist gleichzeitig weiterhin sichtbar: Gerade junge Frauen tragen Coronamasken – manche davon hübsch verziert – anstelle eines Gesichtsschleiers.
Eigentlich, verrät sie, dürfte sie solche Bilder aktuell gar nicht malen. „Die Taliban haben mir gesagt, ich solle Landschaften malen oder leblose Objekte“, erklärt sie. Auch sonst prägen die Verbote der De-facto-Regierung ihren Alltag. Die 16-Jährige würde jetzt eigentlich die zwölfte Klasse besuchen, die letzte im afghanischen Schulsystem.
Danach folgt nur die Zulassungsprüfung zur Universität, das Pendant zum Abitur. Doch die Taliban-Gesetze verbieten Mädchen den Schulbesuch nach der sechsten Klasse. Entmutigen lassen will sich Hasina von den Einschränkungen nicht, sie träumt noch wie davon, Ingenieurwesen zu studieren, nachdem sie sich gegen Kunst entschieden hatte.
Statt die Schule zu besuchen, engagiert sich die 16-Jährige nun selbst als Lehrerin. Sie schildert: „Ich habe angefangen, Mädchen und Frauen Zeichnen beizubringen.” Ihre Schülerinnen seien sieben bis vierzig Jahre alt, das Projekt wird von einem deutschen Träger finanziert: „Ich habe vor der Machtübernahme dort selbst an den Kursen teilgenommen. Als ich später wiederkam, hieß es, es gebe keine Lehrerinnen mehr, und so habe ich angefangen, zu unterrichten.“ Mehrheitlich handle es sich bei den Teilnehmerinnen um Mädchen und junge Frauen, die eigentlich die Schule besuchen würden wie sie, wäre es nicht verboten. Sie schaut kurz nachdenklich, lächelt dann wieder und schildert ihre Wunschvorstellung eines zukünftigen Afghanistans: ein Land mit Reise-, Rede- und Kleidungsfreiheit.
Sicherheit sieht Hasina als zweitrangig an. Sie sei es gewöhnt, dass es Explosionen geben könne. „Ich bin so aufgewachsen“, sagt sie. Wann immer sie zu nah am Fenster sitze, frage ihr Vater, was sie da mache: „Willst du dich etwa umbringen?“ Schließlich könnten die Scherben sie im Falle eines Anschlags verletzen. Auch vor der Machtübernahme sei es nicht sicher gewesen, sagt sie, betont das „auch“: Von dem Narrativ, dass es nun friedlich sei, halte sie wenig. Sie betont: „Aber selbst wenn es jetzt ein bisschen sicherer wäre, dürfen wir unsere Bildungsrechte dafür nicht hergeben.“ Sie hoffe, dass internationaler Druck dazu führen werde, dass Mädchen wieder die Schule regulär abschließen könnten.
Auch Kimia (Name geändert) kämpft gegen Verbote an. Die 23-Jährige hat eigentlich Journalismus studiert, im Vorjahr graduiert und wollte dann ihre Medienkarriere beginnen. Die Machtübernahme der Taliban hat sie allerdings daran gehindert, ihren Traum in die Tat umzusetzen. „Ich habe gesehen, welche Regeln Medien und vor allem Journalistinnen auferlegt bekamen, welche Vorschriften gemacht wurden. So könnte ich meine Arbeit nicht machen“, erklärt sie. Hautnah erlebt hat sie die Repressalien an der Universität und zwar nicht nur durch Geschlechtertrennung und Verschleierungsgebot.
„Uns wurde verboten, Fotos zu machen, und wurde dennoch jemand entdeckt, der/die mit dem Handy Aufnahmen gemacht hat, wurde es ihm/ihr weggenommen und zerbrochen.“
Daher habe sie sich einen Bereich gesucht, in dem sie freier sei, und die Malerei für sich entdeckt. „Als die Taliban gekommen sind, ist alles zusammengebrochen“, sagt Kimia. Mit ihren Werken wolle sie nun den Menschen in ihrem Land, vor allem Mädchen und Frauen, Hoffnung und Energie geben: „Mit den Bildern möchte ich mein Herz sprechen lassen.“ Als weitere Motivation nennt sie, zu zeigen, dass unter der Verschleierung weiterhin Menschen seien, dieselben Menschen mit denselben Gedanken wie zuvor ohne Kopfbedeckung:
Okay, wir bedecken uns jetzt, weil wir das tun müssen, aber davon verschwinden nicht unsere Gedanken oder Fähigkeiten, die Verschleierung ändert nicht unser Denken.
Kunst hingegen traut sie ebendas zu: Die Gedanken von denen zu beeinflussen, die diese anschauten. Sie hoffe, dass ihre Bilder zum Nachdenken anregen, den Einen Mut geben und den anderen – jenen außerhalb Afghanistans – zeigen, wie es Frauen und Mädchen derzeit in ihrem Land ergeht. Über die Motive ließen sich ihre Wünsche transportieren: „Auch wir wollen atmen, wir wollen frei sein, selbstbestimmt leben.“ Kimias Augen leuchten:
„Es wird vielleicht nicht etwas Riesiges verändern, aber zumindest etwas Kleines, davon bin ich überzeugt.Ich glaube, dass ich mit meiner Kunst wenigstens eine Person zu umdenken bewegen kann, vielleicht ein paar Menschen.“
Sie sei zuvor lange eine Beobachterin gewesen, wie sie sagt. Die Machtübernahme der Taliban, die immer neuen Regeln, die vorrangig Frauen unterdrückten und einschränkten, hätten sie wachgerüttelt.
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Mit ihrer Kunst geht Kimia taktisch vor. Die Texte und Hashtags unter ihren Instagram-Beiträgen verraten nichts von den politischen Inhalten ihrer Bilder; ganz bewusst, da sie mit ihren Motiven sowieso schon eine Talibanregel bricht und nicht noch mehr Unmut auf sich lenken möchte. „Frauen vor allem verstehen die Bilder aber sowieso und gebildete Menschen generell“, sagt sie. Da brauche es gar keine schriftlichen Informationen, um die talibankritischen Botschaften zu vermitteln.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
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