Bis die Taliban die Macht an sich rissen, hat Yasmin ihr Leben entgegen vieler Widrigkeiten einigermaßen selbstbestimmt führen können. Seitdem allerdings wurde ihr Stück für Stück ihre Freiheit genommen. Dennoch will sie nicht aufgeben; ihr Widerstand hat viele Facetten.
Yasmin1Name geändert sitzt auf einem Sessel und zögert zunächst mit ihrer Frage. Sie hat das Gespräch gesucht und bittet dafür in einen Nebenraum des Büros der Organisation, bei der sie sich ehrenamtlich engagiert. Sie möchte allein reden.
„Darf ich etwas Persönliches fragen?“, beginnt sie. Ich nicke.
Sie möchte wissen, ob ich verheiratet bin – nein – und ob ich heiraten möchte – eigentlich nicht – und ob ich schonmal eine Freundin, also keinen Freund, hatte? Ich nicke. Dann bricht es aus ihr heraus:
“Ich denke ja, dass es gut ist, vielleicht besser, mit einer Frau zusammen zu sein. Man versteht sich viel besser, versteht die Probleme mehr und ist einfach viel ähnlicher!”
Ich nicke, weiß aber nicht recht, was sie nun von mir hören möchte. Doch ich muss gar nichts sagen, denn sie spricht nahtlos weiter:
“Meine Stiefmutter will, dass ich bald heirate, weil ich kein Geld mehr verdiene.”
Es geht hier selbstverständlich um einen Mann. Sie zögert nochmal kurz und führt dann aus:
“Ich will vielleicht auch mal eine Freundin oder einen Freund haben, aber ich will auf keinen Fall jetzt heiraten. Ich bin noch nicht bereit dafür.”
Sie benötige ihre Energie für ihren Aktivismus für Frauen- und Kinderrechte, wolle sich noch weiterbilden. Auch wäre sie viel lieber weiterhin eine Ernährerin der Familie, als diese per Heirat zu verlassen, schildert mir die 22-Jährige.
Drei Wochen später sehen wir uns wieder, Yasmins Heiratspläne sind konkreter gemacht worden, ihre Verzweiflung größer. Wir treffen uns in einem Café, das weit von ihrem Zuhause entfernt liegt und derzeit recht schlecht besucht ist. Wir sind also alleine und niemand hört mit.
Yasmin erzählt, dass sie einen afghanischen Mann heiraten soll, der sich derzeit gar nicht im Land aufhält und den weder sie noch ihre Eltern persönlich kennen. “Sie meinen eben, er komme aus einer guten Familie”, sagt sie. Aber wie solle sie jemanden heiraten, den sie nicht kenne?
Man habe ihr gesagt, sie werde dann seine Art und seine Gewohnheiten kennenlernen, sobald sie verheiratet seien. Aber was, wenn sie einfach nicht zusammenpassen? Sie wiederholt den Satz des ersten Treffens: “Ich bin noch nicht bereit dazu, zu heiraten!” Deshalb habe sie auch Pläne geschmiedet: Pläne, allein ins Ausland zu gehen. Hauptsache weit genug weg, um nicht heiraten zu müssen.
Yasmin möchte eigentlich ein Vorbild sein, zeigen, dass auch Frauen aus einer schwierigen Lage entkommen und etwas erreichen können. Sie möchte studieren, Frauen und Kinder stärken, ihnen beibringen, wie sie ihr Selbstbewusstsein trainieren. Diese Fähigkeit habe ihr geholfen, einen seelischen Tiefpunkt im Leben zu überwinden.
Sie zeigt ihre Unterarme; die Frage, ob die Narben vom Ritzen oder einem Selbstmordversuch zeugen, bleibt unbeantwortet.
Jedenfalls habe sie an einem niederländischen Institut eine Anlaufstelle gefunden: “Dort wurde mir beigebracht, wie ich mir selbst helfen kann, mein Selbstbewusstsein aufbauen!” Sie möchte lieber über die Lösung als über das Problem reden – und genau das anderen Frauen vermitteln. Am selben Institut habe sie später angefangen, Rechtskurse zu belegen, einen Abschluss machen wollen. Doch nachdem Geschlechtertrennung für alle höheren Bildungsangebote galt, wurde das Angebot für Frauen eingestellt; es habe zu wenige Teilnehmerinnen für einen eigenen Frauenkurs gegeben.
Auch sonst hat Yasmin, wie viele junge Frauen im Land, kein Mitspracherecht bei ihrer eigenen Zukunft. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 ist die wirtschaftliche Lage noch schlechter als zuvor. Insbesondere Frauen verlieren zunehmend ihre beruflichen Möglichkeiten und sehen sich den Repressalien des Regimes ausgeliefert. Das geschieht teilweise durch explizite Verbote: Frauen dürfen keine oberen Führungsebenen mehr besetzen, das Gleiche gilt für öffentliche Ämter und in Medienberufen in bestimmten Bereichen.
In manchen Sparten gelten in der Praxis sogar noch weitreichender Beschränkungen als in der Theorie. Typische Frauenunternehmen im Kleidungs- oder Beautybereich gelten zwar weiterhin als legal. Gleichzeitig schränken die Machthaber den Betrieb ein und schikanieren die Angestellten – bedrängen etwa die Mitarbeiterinnen auf dem Heimweg, wieso sie allein als Frauen unterwegs seien. Auch Kundinnen bleiben aus denselben Gründen den reinen Frauengeschäften zunehmend fern.
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Auf diese Weise hat auch Yasmin ihre Arbeit kurz nach dem Regimewechsel verloren. Sie hatte unter anderem als Künstlerin Geld verdient, indem sie Menschen zeichnete. Doch auch das ist nun verboten und nun sieht ihre Zukunft scheinbar nur einen einzigen Weg vor. “Ich bin Paschtunin”, erklärt sie, “bei uns ist es normal, dass eine Frau verheiratet wird, wenn sie anderweitig nicht nützlich für die Familie sein kann, also etwa kein Geld verdient.” Sie schluckt, hat Tränen in den Augen. Das “normal” ihrer Familie ist nicht ihr Verständnis von Normalität.
Hinzu kommt Yasmins Biografie, die ihr noch weniger Spielraum für selbstbestimmte Entscheidungen lässt:
Als ich sechs Jahre alt war, habe ich meine Mutter verloren. Das war so schlimm für mich. Ich habe keine Geschwister und war ganz allein.
So habe ihre Tante entschieden, dass ihr Vater wieder heiraten müsse. Zu ihrer Stiefmutter pflege sie allerdings ein schlechtes Verhältnis. Deshalb habe sie schon zu ihrer eigenen Schulzeit angefangen, sich für Frauen und Kinder einzusetzen: “Ich habe Kindern und Frauen Malen beigebracht, das hat sie aufgeheitert.” Von sich selbst wisse sie, dass Malen helfen könne. “Immer, wenn es mir schlecht geht oder ich traurig bin, fange ich an zu zeichnen – und dann geht es mir wieder besser”, schildert sie.
Mit ein paar Freundinnen habe sie später die Idee gehabt, von Haus zu Haus zu ziehen und Frauen das beizubringen, was sie lernen wollten; mal ein bisschen Englisch, mal das Alphabet und mal eben auch Zeichnen oder Malen. “Es ist wichtig, ihre Talente und Fähigkeiten sichtbar zu machen”, sagt Yasmin über die Frauen in Afghanistan. Viele verfügten über ein Talent, von dem niemand wisse, weil sie das Haus nicht verließen oder verlassen dürften: “Das wollte ich ändern.”
Ihr eigenes Engagement habe sie ausgebaut, indem sie Menschen zeichnete, die Bilder verkaufte und von dem gesparten Geld Bücher kaufte. Die habe sie Frauen zum Lernen geschenkt. Auf diese Weise sei so viel herumgekommen in der Stadt und habe immer gefragt, was welche Frau lernen möchte. “Und dann wurde ich bedroht, ich solle das bleiben lassen”, verfinstert sich Yasmins bisher strahlendes Gesicht. Die Familien der Frauen hätten ihr gesagt, dass sie das lassen solle, das heißt; die Männer in den Familien. “Sie wollten nicht, dass ihre Töchter, Schwestern oder Ehefrauen etwas lernen”, schließt sie verbittert.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
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