Nafisa O. hat das Leben in Freiheit außerhalb Afghanistans kennengelernt. Sie beschreibt ihren Alltag unter der Taliban-Herrschaft.
Besonders drastisch erlebt Nafisa O. die aktuellen Regeln, die derzeit in Afghanistan herrschen: Eine Hijabpflicht für Frauen, Geschlechtertrennung an vielen öffentlichen Orten und den Universitäten, Schulverbot für Mädchen ab der siebten Klasse. Die 21-Jährige ist während und wegen des Corona-Lockdowns von ihrem Studium in Indien in ihr Heimatland Afghanistan zurückgekehrt, hat Freiheitsrechte im Nachbarland erlebt und mehr noch: Inspiration für ihr Heimatland mitgenommen, wie sie erzählt:
In der Straße, in der ich in Indien gelebt habe, standen eine Moschee, eine Kirche und ein Tempel. Und die Leute haben zusammengelebt, nebeneinander gebetet, alles war möglich.
Einen solchen Umgang miteinander, dass sich Menschen gegenseitig respektieren, wünscht sie sich für Afghanistan, hatte Hoffnung, ihn mit umsetzen zu können: “Vielleicht hat man Unterschiede, aber wir sind doch alle Menschen und sollten so respektiert werden, wie wir sind.” Auch Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung seien an ihrem Wohnort in Indien akzeptiert gewesen, führt sie aus. Sie selbst ist bisexuell, ein Umstand, den sie erst spät zur Sprache bringt – zu unangenehm sind die meisten Reaktionen, die sie darauf erhält. “Viele denken, dass bisexuell bedeutet, dass man untreu ist”, erklärt sie einen absurden Vorwurf.
Ihren Körper zieren gleich mehrere Tattoos. Die genaue Bedeutung von einem davon wird ihr Geheimnis bleiben: Wessen Geburtsdatum ihren Finger ziert, möchte sie nicht verraten. Aufgrund der Körperkunst jedenfalls muss sie aktuell ein besonders großes Tuch tragen, sich extragründlich verhüllen.
Unter der ehemaligen Republikregierung wurde sie dafür zwar auch manchmal schief angeschaut, ernsthaft sagen konnte aber niemand etwas, schildert sie. “Jetzt reagieren die Leute, sprechen laut aus, was sie vielleicht früher schon gedacht haben: Dass meine Tattoos haram (verboten/schlecht, Anm. d. Red.) sind, ich so nicht beten kann”, führt sie aus. Überhaupt bringe die aktuelle “Regierung” das Schlechteste in vielen Menschen hervor.
Gern würde Nafisa O weiter studieren. In Indien fehlen ihr nur mehr die letzten Prüfungen für ihren Universitätsabschluss. Doch den wird sie so schnell nicht nachholen können. Zuerst bekam sie kein Visum mehr, sagt sie und jetzt ist noch ein weiteres Problem hinzugekommen: Aufgrund der aktuellen Wirtschaftslage und ihrer eigenen Arbeitslosigkeit seit der Machtübernahme kann sie inzwischen nicht mehr das Geld aufbringen, um nach Indien zu reisen. Und die Hochschule in Indien lässt sie die Prüfungen nicht online ablegen. “Sie sagen, ich soll einfach sagen, wann ich wieder kommen kann”, sagt sie enttäuscht. Sie fühle sich völlig im Stich gelassen.
Weil sie sich nicht wohlfühlt im “Talibandress”, wie sie die vorgeschriebene Verschleierung in dunklen Farben – vorzugsweise Schwarz – nennt, geht sie nun kaum mehr nach draußen. Eine echte Wahl hat sie nämlich nicht, ob sie sich so anziehen möchte. Dabei steht nicht allein die Sorge vor einer Bestrafung durch die Regierung im Vordergrund. Der Schleier muss bis über die Nase gehen – behelfsweise genügt eine schwarze Coronamaske. “Wenn ich mich nicht so verhülle, lassen mich Taxis einfach stehen, nehmen mich nicht mit”, begründet sie. Auch so werde das aktuelle Regime unterstützt.
Als Nafisa O. versucht, ihren typischen Tagesablauf derzeit zu schildern, bricht sie in Tränen aus, hört auf zu sprechen. “Sie zerstören das Leben einer ganzen Generation gerade”, sagt sie und meint dabei die aktuelle de-facto-Regierung des Landes. Auch ihre Arbeit habe sie verloren. Im Grunde könne sie gar nichts mehr tun; nicht studieren, nicht ihrem Ehrenamt nachgehen (auch hier sind die Spenden weggebrochen), nicht arbeiten. “Alles ist zerstört”, sagt sie.. Dann entschuldigt sie sich mehrfach für ihre Traurigkeit.
Sie beendet das Gespräch mit einer Lösungsidee: “Es wäre ein guter Schritt, wenn westliche Länder mit unserer Regierung aushandeln würden, dass ihr alle (westliche Frauen) euch nicht verhüllen müsst. Das würde die Regeln sicherlich aufweichen.” Sich in Eigeninitiative nicht zu verschleiern als westliche Frau halte sie hingegen für gefährlich. Sie bezweifle außerdem, dass das etwas verändern könne.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.