Lucas Wehner vom Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte schildert die aktuelle Situation nach den Evakuierungen und beschreibt, was bei den Evakuierungen schiefgelaufen ist.
Lucas Wehner gehört zu den neun Vertretern des Patenschaftsnetzwerk für afghanische Ortskräfte, die in den letzten Wochen rund um die Uhr im Einsatz waren: Er hat Evakuierungslisten geschrieben und geprüft und erhält auch während dieses Interviews Whatsapp-Nachrichten von Ortskräften, die Unterstützung benötigen. Wie die Mehrheit der Engagierten des Vereins hat er Bundeswehrbezug: Sie sind Reservisten, aktive oder ehemalige Bundeswehrkräfte und viele von ihnen waren einmal in Afghanistan stationiert.
Mehr dazu, wer das Patenschaftsnetzwerk ist und für was es sich einsetzt:
(Das Patenschaftsnetzwerk ist auf Spenden angewiesen. Deshalb findet in Überlingen heute, 17. September, 19 Uhr, im Kursaal ein Benefizkonzert statt.)
In den letzten 20 Jahren hätten sie dort einiges aufbauen können. Begeistert erzählt Wehner von Skatistan, einem Schulprojekt, in dem morgens ganz klassisch Lesen und Schreiben gelehrt wurde und es dann nach der Mittagspause hieß: Ab auf die Skateboards, auch für Mädchen. Er erinnert sich, wie Mädchen durch Kabul geskatet sind: “Das war fast wie Anfang der 90er oder die 80er dort.” Denn damals, also vor der ersten Machtergreifung der Taliban war Afghanistan ein freies Land. Wehner möchte auch nicht davon sprechen, dass jetzt alles verloren sei, auch nicht der Krieg. Vielmehr schließt er sich der Formulierung an: “Wir haben den Frieden verloren.”
Dem Patenschaftsnetzwerk gehe es jetzt – und seit seiner Gründung 2015 – vor allem darum, den Menschen zu helfen: Den Ortskräften, die als Fahrer, Übersetzer, Soldaten, aber auch Reinigungskräfte und Köche mit der Bundeswehr zusammengearbeitet haben. Deshalb hätten sie auch früh schon gefordert, diese zu evakuieren. “Wir haben sechs Briefe an die Bundeskanzlerin geschrieben”, schildert er – und zwar noch vor dem Fall Kabuls. Es sei bereits im Juni klar gewesen, dass die Taliban sich schnell ausbreiteten und eine schnelle Evakuierung notwendig sei. Jedoch: Die Reaktion der Regierung sei ausgeblieben.
Das Patenschaftsnetzwerk habe daher angefangen, Safe Houses in Kabul für die Ortskräfte einzurichten. Drei Stück seien es letztlich gewesen. Für jedes Haus sei eine hohe fünstellige Summe im Monat fällig geworden, alles aus privaten Spenden finanziert: “Wir haben bis heute keine staatliche Unterstützung erhalten.” Dann kam der 16. August. Kabul war gefallen, das Patenschaftsnetzwerk entschied sich aufgrund der Sicherheitslage, die Safe Houses aufzulösen. “Vier Stunden später standen die Taliban vor der Tür.” Beinahe wären also die Safe Houses zur Falle für die Ortskräfte geworden.
Wären die Evakuierungen – wie unter anderem vom Patenschaftsnetzwerk gefordert – eher begonnen worden, hätten die Safe Houses vielmehr die Chance bieten können, diese reibungsloser und zügig durchzuführen. Man hätte die Ortskräfte direkt an den Häusern abholen und gesammelt zum Flughafen bringen können. Stattdessen seien die Menschen dann überall zerstreut gewesen und hätten sich einzeln auf den Weg zum Flughafen machen müssen. Einige seien daran gescheitert, wieder andere hätten zwar das Gate erreicht, seien aber nicht durchgelassen worden, obwohl sie eigentlich auf der Evakuierungsliste standen. Zu vielen sei auch der Kontakt abgebrochen, teilweise noch im Land, teilweise fehle der Kontakt, seit sich diese “irgendwo zwischen Afghanistan und Deutschland” aufhielten.
Wehner möchte den Bundeswehrkameraden, die vor Ort die Evakuierung durchgeführt haben, keinen Vorwurf machen. Wohl aber kritisiert er die Ebene darüber, die politischen Entscheidungsträger, die erst so spät mit den rettenden Maßnahmen begonnen hätten.
Mit welchen Herausforderungen das Patenschaftsnetzwerk obendrein konfrontiert ist – denn mit der Evakuierung waren die Hürden noch lange nicht zu Ende – könnt ihr in unserem Podcast nachhören:
Beitrag veröffentlicht am September 17, 2021
Zuletzt bearbeitet am September 17, 2021
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