Junge Menschen erzählen, wie sie das Leben in Kabul empfinden – und welche Sorgen sie mit dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan verbinden.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Ein Land im Abgrund. Die Situation in Afghanistan hat sich seit Ankündigung des Truppenabzugs so deutlich verschlechtert, dass die afghanische Regierung einen Appell an europäische Länder richtete, zumindest in den nächsten drei Monaten keine Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen: Die Taliban sind auf dem Vormarsch und nehmen immer neue Gebiete ein. Was bedeutet das für Menschen, die derzeit in dem Kriegsland leben?
Künstlerin und Frauenrechtlerin Rada Akbar antwortet auf die Frage, wie es ihr geht, offen und direkt: „Ich bin müde. Während wir vor wenigen Monaten noch irgendwie ignorieren konnten, wie schlimm die Lage ist, lässt sich das jetzt nicht mehr wegschieben.“ Sie sei langsamer geworden. Die einfachsten Schritte an ihren Projekten nähmen nun Stunden in Anspruch. Doch sie mache weiter, es sei gerade jetzt wichtig, ihre Stimme zu erheben.
Nicht zuletzt, da derzeit in westlichen Medien negative Vorurteile über das Land und seine BewohnerInnen verbreitet würden. Sie betont:
Ich bin nicht die eine Ausnahme!
Weiter kritisiert Akbar, wie oft sie gefragt werde, ob sie – mit ihren auffälligen Outfits, als Feministin und Künstlerin – denn afghanische Frauen in ihrer Gesamtheit repräsentieren könne: „Als das jahrzehntelang Männer gemacht haben, hat niemand diese Frage gestellt.“
Dabei gehöre Feminismus durchaus zur Geschichte des Landes. „Als meine Mutter jung war, konnte sie sich anziehen, wie sie wollte und machen, was sie wollte“, schildert Akbar. Leider werde dieser Abschnitt der Landesgeschichte von Narrativen über ein rückständiges Kämpfervolk verdrängt, manche Medien stellten gar lediglich Fragen über die vergangenen 20 Jahre. Als gäbe es Afghanistan erst seit Beginn des NATO-Einsatzes, der nun in diesem Jahr abgebrochen wurde. „Und es geht doch um ganz normale Dinge: Freiheit, die Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Das möchten Frauen auf einem abgelegenen Dorf genauso wie ich“, hebt sie hervor.
Bereits zum dritten Mal hat Akbar zum diesjährigen Frauentag eine Ausstellung ausgearbeitet und kuratiert. “Abarzanan” lautet der Titel der Reihe. Superfrauen. Sie möchte mit der Ausstellungsreihe mit Vorurteilen über afghanische Frauen brechen. In diesem Jahr hatte sie die Ausstellung ermordeten Frauenrechtlerinnen gewidmet. Dieses Thema geht ihr besonders nah. Erst voriges Jahr wurde eine ihrer Freundinnen Opfer eines gezielten Anschlags. “Sie hat dafür eine Tapferkeitsmedaille erhalten”, sagt sie und lacht bitter. Aufgeklärt worden sei der Mord hingegen nie: “Sie wollte nicht sterben. Sie war erst 24 und so voller Leben. Sie war eine, die gern gelacht hat, gesungen, getanzt, die gern auf Partys gegangen ist und große Träume hatte. Sie wollte einmal Premierministerin werden oder etwas in der Art.” Nun sei es an ihr, zu verhindern, dass Frauen wie ihre Freundin einfach vergessen würden, „zu einer Nummer werden“.
Auch der 23-jährige Asghar lässt sich von tödlichen Bedrohungen nicht abschrecken. Bereits mit 18 Jahren hat er den Fahrradclub Drop and Ride gegründet; hier trainieren junge Frauen und junge Männer gemeinsam Zweiradtricks. „Wir möchten zeigen, dass das etwas ganz Normales ist, wenn Jungs und Mädchen etwas zusammen unternehmen“, erklärt er.
Was für deutsche Ohren harmlos klingt, ist in Afghanistan ein Affront gegen ungeschriebene Gesetze und kann nicht nur wegen der ungezielten Explosionen, die in Kabul zum Alltag gehören, tödlich enden. Eine Bombe explodierte direkt hinter den RadlerInnen, als sie gerade einen Ausflug machten. „Es war so nah, dass unsere Hinterreifen platzten“, erinnert sich der Clubgründer. Verletzt worden sei glücklicherweise niemand.
Das Vorrücken der Taliban seit der Ankündigung und dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen erhöht nun die Gefahr für das Projekt. Asghar fasst sich ins rasierte Gesicht und sagt: „Selbst mein Aussehen würde mich auf Taliban-Gebiet in Gefahr bringen.“ Auch könnten sie gezielt angegriffen werden, wenn jemand Falsches den Standort des Clubs herausfinde. Der trifft sich in einer Turnhalle, die nur über einen schmalen, versteckt gelegenen Durchgang erreichbar ist.
AN DIESER STELLE BEFAND SICH EINE FOTOGALERIE DES PROJEKTS IN KABUL: DA BISHER NICHT DAS GESAMTE TEAM EVAKUIERT WERDEN KONNTE UND DIE EVAKUIERTEN UM DIE SICHERHEIT IHRER ELTERN UND GESCHWISTER FÜRCHTEN; IST DIESER ARTIKEL NUN ANONYMISIERT WORDEN.
Trotzdem will er weitermachen. Was ihn dabei motiviert? „Wenn ich sehe, wie andere junge Menschen Freude hier haben, wie sie einen Traum leben können, das gibt mir Kraft, weiterzumachen.“ Auch aus der afghanischen Bevölkerung erhalte er viel Zuspruch für sein Projekt. Seine Co-Trainerin, die 18-jährige Zohra, betont, dass auch ihre Eltern voll hinter dem Club stünden. Hier habe sie selbst überhaupt erst Fahrradfahren gelernt.
Azer sieht in ihrem Engagement für Drop and Ride einen wichtigen Beitrag dazu, ihren größten Wunsch zu erfüllen. „Ich möchte frei sein“, sagt sie. Damit meine sie nicht das Tuch, das ihren Kopf bedeckt.
„Ich möchte, dass Frauen selbst entscheiden können, was sie studieren oder arbeiten oder generell tun möchten.“
Für Frauen in Afghanistan bleibt unter anderem die Berufswahl nicht nur auf Taliban-Gebiet oder aus diskriminierenden Gründen eingeschränkt. Oftmals verbirgt sich hinter den Vorschriften die Sorge der Eltern, ihre Tochter könne sich in Gefahr bringen. Das schildert etwa Niloufar Mohammadi, die im Abschlusssemester Journalismus an der Kabuler Universität studiert. „Ich halte Journalistinnen in diesem Land für Heldinnen“, sagt sie. Auch wenn der Berufsstand hier generell wegen der Anschläge gefährdet sei. Gerade Journalistinnen würden oft Opfer gezielter Angriffe und leider hätten manche dieser Mordversuche auch Erfolg. „Ich wollte eigentlich für das Fernsehen arbeiten, aber meine Eltern erlauben es nicht“, schildert die junge Frau. Erst im Vorjahr wurde eine Fernsehmoderatorin Opfer eines gezielten Anschlags.
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Mohammadis Kommilitone Esahnullah Attiq setzt sich unter anderem deshalb für eine Gesellschaft ein, in der junge Menschen mehr Chancen haben. Er arbeitet gerade an der Gründung eines eigenen Peacebuildingclubs an der Journalismusfakultät: „Ich denke, die Medien haben eine große Verantwortung und sollten ihren Beitrag zur Friedensentwicklung leisten.“
Dabei ist das Thema dort besonders brisant: Erst im November 2020 wurde ein Anschlag auf ebendiese Universität verübt, bei einer Schießerei starben 35 Menschen, mehr als doppelt so viele wurden verletzt. „Unser Fachbereich war der erste, der danach wieder weitergemacht hat. Unsere Dozenten haben uns gesagt, dass es mehr Sicherheitskräfte an den Eingängen geben wird, aber da war trotzdem diese Unsicherheit, wenn wir das Gebäude betreten haben“, schildert er. Nach einer kleinen Redepause sagt er recht unvermittelt mit einem Seitenblick auf seine Kommilitoninnen am Nebentisch:
Eigentlich haben wir Glück, jetzt hier zu sitzen und noch am Leben zu sein.
Esahnullah Attiq
Journalismus-Student in Kabul
Er habe Freunde im Ausland, die immer dann, wenn er die Situation im Land schildere, sagten: „Geh doch weg, verlass das Land, es ist nicht sicher.“ Er entgegne ihnen dann, dass er bleiben müsse: „Es ist doch wichtig, dass gerade gebildete junge Leute hier bleiben, um das Land aufzubauen. Menschen, die sich für den Frieden einsetzen.“
Zusätzlich motiviert habe ihn seine eigene Familie. In Kabul finde man aktuell kaum eine Arbeit, wenn man nicht mindestens einen Bachelorabschluss vorweisen könne: „Ich muss für meine Familie Geld verdienen. Ich habe fünf Geschwister und nur meine Eltern verdienen derzeit Geld. Während meiner Schulzeit habe ich als Schneider gearbeitet, das funktioniert nur während des Studiums nicht.“
Seine Eltern seien außerdem in der glücklichen Lage gewesen, eine kurze Zeit des Friedens in Afghanistan mitzuerleben: „Sie erzählen manchmal, wie Kabul damals war“, sagt Attiq. Er selbst möchte jungen Menschen etwas beibringen, nach dem Studium selbst Dozent werden. „Es gibt eine ganz tolle junge Generation in diesem Land, die etwas erreichen möchte für dieses Land“, sagt der Nachwuchs-Journalist.
Attiq bekräftigt, er glaube daran, dass sie gemeinsam etwas verändern könnten. Seiner Aussage und den Zukunftsplänen fügt er ein „Inshallah“ hinzu. So Gott will. Seine Augen leuchten bei der Vorstellung des Afghanistans, das diese junge Generation gemeinsam aufbauen könnte.
Beitrag veröffentlicht am August 12, 2021
Zuletzt bearbeitet am August 12, 2021
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
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