700 Geflüchtete besetzen Gebäude in Brüssel

700 Geflüchtete besetzen Gebäude in Brüssel

Weil die belgische Regierung keine Schlafplätze bereitstellt, haben rund 700 Geflüchtete ein Gebäude besetzt – die Behörden wollen es räumen lassen.

Die Räume wirken fast einladend; hell und lichtdurchflutet. Das Gebäude in der Brüsseler Innenstadt ist großzügig geschnitten, begrüßt mit einem Lichthof und glänzendem Marmorboden. Allerdings war es das auch schon mit Komfort für rund 700 Asylsuchende, die sich – aus ihrer Sicht notgedrungen – hier eingerichtet haben und das Gebäude seit rund zwei Monaten besetzen.

Warmwasser und Heizung funktionieren nicht, Strom gibt es nur bedingt. Er erlaubt etwa einer klemmenden Schiebetür, dauerhaft zu piepsen, aber keinem Boiler, Warmwasser zu produzieren. Wäsche trocknet am Geländer über dem Lichthof, immerhin die kleineren Räume in der ersten Etage lassen sich mit selbst gekauften Heizgeräten auf eine wohnliche Temperatur bringen.

Umbau für Geflüchtete aus der Ukraine

Vier Jahre lang stand das Gebäude leer, früher war hier eine Behörde angesiedelt, die sich um Steuer- und Rentenbescheide kümmert. „Die Stadt hat 2001 beschlossen, das Gebäude per Sale-and-Lease-back-Vertrag zu verkaufen.“, erklärt Architekturstudent Felix Schröder, der sich mit der Geschichte des Gebäudes befasst und sich hier ehrenamtlich engagiert. Zuletzt sollte es hergerichtet werden, um Geflüchtete aus der Ukraine unterzubringen. Doch wegen der Besetzung stellten die Handwerker:innen ihre Arbeit ein.

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Dabei zeigt ein Rundgang, dass viele der gerade angefangenen Bauschritten in Gebäudeteilen stattfanden, in denen sich die Geflüchteten gar nicht aufhalten – und die über ein separates Treppenhaus erreichbar wären, das sich sechs Stockwerke nach oben windet. Der belgische Staat will die Besetzung nicht länger dulden, hat bereits einen Räumungsbescheid verschicken lassen. Nur: Eine Alternative für die Asylsuchenden aus anderen Ländern bietet er nicht.

Überforderter Staat

Tausende sind deshalb aktuell obdachlos, obwohl der Staat laut internationalem Recht verpflichtet ist, für sie eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Damit zeigt sich Belgien allerdings überfordert und nur bedingt gewillt, entsprechend auf die Gerichtsurteile von nationalen Gerichten und dem europäischen Gerichtshof zu reagieren. „Ich wusste nicht, dass die Situation hier so ist“, sagt ein Syrer, der namentlich nicht genannt werden will: „Sie haben uns einfach der Straße überlassen.“ Von anderen Asylsuchenden habe er in der ersten Nacht noch eine Decke bekommen.

Die Geschichte, die er von Flucht und Vertreibung erzählt, klingt besonders perfide: Vor mehr als zehn Jahren hat er Syrien verlassen, um der Assad-Diktatur zu entgehen. Zuflucht fand er zunächst in Saudi-Arabien. Für eine medizinische Ausbildung ging er 2015 in ein Krankenhaus nach Belarus. „Wegen des Krieges haben sie alle Visa gestrichen“, erzählt er weiter. Rückwirkend sei er froh, da er in Grenznähe wohnte und dort auch Militär angesiedelt war. Gleichzeitig schwingt der Frust mit:

Ich renne jetzt seit 14 Jahren vor Krieg weg. Das macht keinen Spaß, aber ich kann es nicht ändern.

Zunächst suchte der Syrer Schutz in einem skandinavischen Land. Doch das wollte ihn zurück nach Syrien abschieben. „Sie denken einfach, das sei ein sicheres Land“, zeigt er sich noch immer erstaunt. Er habe gehört, dass er in Belgien bessere Chancen haben könnte und wolle hier nun den inzwischen vierten Neustart probieren.

Kaum Unterstützung

Doch einmal mehr erlebt der Syrer hier, nicht willkommen zu sein. „Es gibt Lösungen, aber sie ignorieren sie einfach“, klagt er über den Staat. Wenigstens ein Müllauto könnten sie doch schicken, den die Bewohner:innen selbst beladen würden. Heißes Wasser, Strom. „Wir können die Dinge alleine regeln, aber brauchen wenigstens etwas Unterstützung“, führt er weiter aus. Selbst eine Turnhalle wäre für ihn akzeptabel – Hauptsache nicht die Straße.

Auch für andere Grundbedürfnisse sind die Bewohner:innen auf Hilfe durch Organisationen angewiesen. „Wir müssen auf ein Wunder Gottes warten. Wir wissen nicht, woher wir Essen oder Tee bekommen“, sagt Hitimana Jean de Dieu. Auch Internet, um mit den Familien in Kontakt zu bleiben, sei nicht vorhanden.

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Zustände wie in Moria

Solche Zustände kennt Anwältin Marie Doutrepont eigentlich aus Moria, dem berüchtigten Camp aus der griechischen Insel Lesbos. Sie nun nur wenige Minuten zu Fuß von ihrer Kanzlei, in der Hauptstadt Belgiens – im Herzen der EU – vorzufinden, schmerzt sie umso mehr. „Ich war wirklich schockiert“, sagt sie. Trotz erfolgreicher Klagen gegen die Regierung müssten die Anwält:innen ihre Klient:innen bitten, auf der Straße durchzuhalten – denn eine Lösung hätten sie nicht und die Regierung weigere sich, den Urteilen zu folgen. „Wie erklärst du das?“, fragt sie ratlos. Ein solches Verhalten erschüttere den Rechtsstaat und die Demokratie in ihren Grundfesten.

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In anderer Hinsicht zeigt sich die belgische Regierung dagegen deutlich entschlossener, die Regeln durchzusetzen. Den Räumungsandrohung für das besetzte Gebäude wurde jüngst gut sichtbar am Gebäude aufgehängt. Wo die rund 700 Menschen dann unterkommen sollen, um nicht wieder auf der Straße zu landen, ließ sie allerdings offen.

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