Wahltag in Diyarbakır: Skepsis gegen die Staatsmacht

Wahltag in Diyarbakır: Skepsis gegen die Staatsmacht

In den kurdisch-dominierten Gebieten der Türkei hat die Regierung nur wenige Anhänger:innen. Ein Besuch in Diyarbakır am Abend der ersten Runde der Präsidentschaftswahl.

Die anfängliche Zuversicht weicht schnell der Resignation. Während sich zu früherer Stunde am Wahltag noch viele Türk:innen zuversichtlich zeigen, dass nun endlich der erhoffte Wandel folgen könnte, sieht das Stimmungsbild nach den ersten Ergebnissen ganz anders aus: Frust, Verzweiflung, Unverständnis.

Der Vorsprung schmilzt

Die ersten Hochrechnungen verfolgt Mehmet an einem kleinen Röhrenfernseher, den er auf das Regal im Außenbereich der Eingangstür seines kleinen Ladens in Diyarbakır gestellt hat. An der anliegenden Kreuzung parkt ein gepanzertes Polizeiauto. Auch wenn die Zahlen einen hohen Vorsprung für den Amtsinhaber, Reccep Tayyip Erdoğan ausweisen, gibt er sich zuversichtlich. Schließlich schmilzt die Differenz zu Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu fast im Minutentakt.

Seine neugierigen Gäste lädt Mehmet sofort auf ein Erfrischungsgetränk ein und bittet sie, auf einem der Hocker Platz zu nehmen. Gleich zu Beginn warnt er davor, das Smartphone zu offensichtlich zu benutzen – in dem Viertel könne das schnell gestohlen werden. Viele Syrer:innen lebten hier. „Wenn man wie ich sich morgens hinsetzt und abends geht, passiert nichts. Aber nicht jeder ist wie ich“, sagt er und schmunzelt.

Frust über Geflüchtete

Mit einer neuen Regierung könne sich dieses Problem schnell lösen, so die Hoffnung. Kilicdaroglu wirbt mit harten Worten um die Gunst derjenigen, die keine Geflüchteten mehr im Land haben wollen. „Wenn eine andere Regierung kommt, werden sie innerhalb eines Jahres in ihr Land zurückgehen. Dann wird es unserem Land besser gehen“, ist Mehmet überzeugt. Zumal die kurdisch-dominierte Region unter Erdoğans Herrschaft massiv gelitten hat.

Verbittert stellen Mehmet und seine inzwischen dazugekommenen Freunde fest, dass Kurd:innen in Europa auch von Türk:innen besser behandelt würden als in der Türkei. Sie fänden hier kaum Arbeit, erführen staatliche Repressionen – wie sich nur wenige Minuten später zeigen wird. Zu politisch wollen Mehmet und seine Freunde nicht werden. „Wir sind draußen. Wissen Sie, der Staat… – wir können nicht reden“, sagt er, während sein Freund auf die Einschusslöcher in den Hauswänden und an einem Wellblechdach deutet Mit eindeutiger Geste erklärt er die Schäden.

Im Visier der Polizei

Inzwischen ist auch die Polizei auf die Gruppe und die laut spielenden Kinder aufmerksam geworden. Kurz nach Beginn der Dämmerung spricht ein Beamter Mehmet an, mit ernster Mimik, Mehmet beschwichtigt offensichtlich die Lage, denn am Ende winkt der Polizist ab und lächelt kurz. Doch Mehmet kommt angespannt zurück. Ins Detail gehen will er nicht. Ob die Polizei hier Probleme macht? Er nickt. Ob seine Gäste das Problem sind? Er nickt. Zeit für einen herzlichen Abschied.

Die Grundstimmung in Diyarbakır ist auch anderswo angespannt. Auf den Staat und sein Machtmonopol sind viele Menschen schlecht zu sprechen nach den gewaltvollen Erfahrungen in den vergangenen Jahren. Auch Fremden begegnen sie anfänglich mit einer gewissen Skepsis, die aber meist schnell einer überwältigenden Gastfreundschaft weicht.

Angst vor einem Bürgerkrieg

Ein Ladenbesitzer führt zu seinem kleinen Geschäft und der davor stehenden Eistruhe. Er mag die unerwarteten Besucher:innen nicht ohne eine Abkühlung gehen lassen. Bei politischen Gesprächen sehen sich die Gesprächspartner stets um, dass niemand Unbekanntes zuhört, suchen einen vertrauten Rahmen, gehen ein paar Schritte nach draußen. „Es gibt Angst und es herrscht Panik“, sagt ein Ladenbetreiber. Alles könne passieren und er befürchte das Schlimmste: „Bürgerkrieg.“ Osman Ekrem spricht offen seine Hoffnung aus: „Erdogan geht.“ Und auch er hofft, dass künftig in der Stadt weniger Geflüchtete leben werden; obwohl er selbst einen syrischen Jungen aufgenommen hat.

Doch obwohl am Ende der Auszählung in Diyarbakir fast 72% der Stimmen für Kılıçdaroğlu stehen, hat Amtsinhaber Erdoğan hier Befürworter. „Kılıçdaroğlu ist so schlecht – er ist nicht so erfahren wie Erdoğan“, sagt etwa ein Mitarbeiter in einem Baklava-Laden, dessen verstorbener Vater als Beamter gearbeitet hat. In der Türkei lebten nicht nur Kurden, sondern insgesamt 86 Millionen Menschen, argumentiert er. Die berücksichtige Erdoğan alle mit seiner Politik. Zumal ein Großteil der Gesellschaft muslimischen Glaubens sei und entsprechende Erwartungen an die Regierung habe. In Metropolen wie Izmir oder Istanbul sei das weniger ausgeprägt, weshalb hier auch liberalere Regeln gälten.

Regierungsanhänger in der Minderheit

Die wirtschaftlichen Probleme, unter denen die Türkei besonders leidet, führt er auf die Coronapandemie zurück – und nicht auf Fehlentscheidungen. Doch hat er offenbar Vertrauen in Erdoğan, diese Herausforderungen zu bewältigen. „Unsere Gesellschaft ist eine sehr dynamische, die alles und jede Emotion ausdrücken kann und in der sich jede:r frei bewegen kann“, unterstreicht er.

Ganz anders sieht das ein Mann, der sich in Gaziantep als bekennender Nichtwähler zu erkennen gibt. Er denke nicht, dass sich etwas signifikant ändere, egal wer nun gewinne. „Die Leute sind immer noch dumm“, beklagt er; nur so kann er sich erklären, dass Erdoğan überhaupt noch im Amt weilt. Obwohl das Gespräch an einem öffentlichen Ort stattfindet und Sicherheitskräfte nicht allzuweit entfernt stehen, fällt mehrfach der Begriff “Diktator”. Er selbst wirkt dabei gelassener als seine beiden Gegenüber. Die Menschen würden alles glauben und keinen Druck auf die Machthaber:innen ausüben, um tatsächlich etwas Besseres für das Land zu erreichen, kritisiert er. So besuchten die Kinder Schulen und Universitäten, ohne später eine Perspektive im Arbeitsleben zu haben.

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Er selbst hat mehrere Jahre in Deutschland gelebt und sich nun in der Türkei selbstständig gemacht. In der Türkei funktionierten die Behörden deutlich schlechter, stellt er fest. So habe auch Erdoğan vor allem seinem Heimatort, seiner Familie und Freunden Wohlstand beschert, während viele Menschen verarmt seien. Allerdings hat er auch in die anderen Parteien nicht mehr Vertrauen.

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