Module Club Dnipro: DJs an der Front

Module Club Dnipro: DJs an der Front

Maschinengewehr statt Mischpult: Mit der groß angelegten russischen Offensive in der Ukraine haben sich allein bis Anfang März mehr als 100.000 Freiwillige aus der Zivilgesellschaft bei den Territorialen Verteidigungseinheiten (Війська територіальної оборони) gemeldet. In den verschiedenen Einheiten findet sich auch eine Gemeinschaft von rund 30 Kämpfern wieder, die sonst ein Nacht-Klub verbindet: der Module Club Dnipro.

Eine eigentlich friedliche Gemeinschaft

DJs, Barkeeper, Techniker und Partygäste verteidigen plötzlich ihr Land, um in Zukunft wie in der Vergangenheit feiern zu können. „Vor dem Krieg waren wir eine wirklich friedliche Gemeinschaft“, betont Mitgründer Evgen Goncharov. Neben ausgiebigen Feiern standen auch die Rechte der LGBT-Menschen (in diesem Jahr sollte die erste Pride in Dnipro stattfinden) oder Tierschutz auf der Tagesordnung. Denn der Module Club sei mehr als ein Nachtklub: Ein Ort, an dem sich freie Menschen ausleben könnten, der in den Grundzügen länger bestehe als die Lokalität. Allein der Name sollte die ständige Wandelbarkeit verkörpern.

Statt Flyern ziert das modifizierte Logo nun als Abzeichen den Klettverschluss auf kugelsicheren Westen, Bässe aus den Boxen weichen den Klängen von Schüssen und Explosionen. In diesem Zuge hat sich auch Goncharovs Arbeitsfeld grundlegend gewandelt. „Ich kann meine Organisations-Kenntnisse nutzen“, sieht er sich nach wie vor seine Stärken ausspielen. So könne er seinem Land als Zivilist besser helfen als an der Front.

Spendenaufrufe statt Event-Organisation

Alona und Evgen Goncharov.

Einen eigenen Einsatz an der Waffe schließt derweil Goncharov nicht aus:

Ich denke, es ist recht wahrscheinlich, dass ich an einem gewissen Punkt in der Zukunft auch selbst an der Front nützlicher sein werde.

Derzeit organisiert der 35-Jährige die Auftritte in den sozialen Medien, verwaltet Spendenaufrufe, beschafft Ausrüstung für die Kameraden an der Front und kümmert sich darum, dass diese auch ankommen. Helm-Bedeckungen, kugelsichere Westen, Drohnen oder Funkgeräte lagern aktuell in seiner Wohnung in Dnipro; die 130 Helme aus China verzögerten sich wegen Lieferproblemen. Vier, bald fünf Autos, habe die Gruppe mit den 50.000 US-Dollar Spendengeldern ebenfalls schon angeschafft. Auf dem Balkon liegen selbst abgefüllte Molotow-Cocktails – falls der Krieg doch noch einmal näherkommt.

Gänzlich neu ist dieses Engagement für die Module-Gemeinschaft indes nicht. Denn bereits ab 2014 begrüßte sie Vertriebene der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim und den Kämpfen im Donbass. „Wir hatten auch Leute, die in der Armee waren“, ergänzt Goncharov; der heutige Haus-DJ habe im Krieg ein Bein verloren und sich hier eine neue Karriere zunächst als DJ und später als Musikproduzent aufgebaut. An den Nachtklub ist das Label „Dnipro Pop“ angebunden, in dem er bald ein Album veröffentlichen wird.

Von der Gemeinschaft getragen

Die Lokalität selbst, sei weniger kommerziell betrieben als mehr von der Gemeinschaft getragen, sagt Goncharov. Zuvor waren die Partys noch in verschiedenen Klubs in Dnipro organisiert worden, bis vor zwölf Jahren die Räume in einer alten Polizei-Druckerei aus Sowjet-Zeiten gefunden wurden. „Sie wurden vor allem durch Spenden der Leute eingerichtet und entwickelt. Jede:r konnte etwas dazu beitragen“, führt er aus.

Daher beschreibt sich der Module Club auch gerne als „Mitsyvnya“ (Митцівня), abgeleitet vom ukrainischen Wort Mitets (Митець – Künstler:in): Ein Ort für Künstler:innen.

Unangenehme Überraschung

Worauf sich die Module-Mitglieder bei der Territorialen Verteidigung genau eingelassen haben, sei ihnen Ende Februar allerdings nicht bewusst gewesen. „Sie haben das Dokument nicht wirklich gelesen“, erläutert Goncharov; hierbei habe es sich eher um eine Interessensbekundung als einen Vertrag gehandelt. Zumal die Bürokratie in den ersten chaotischen Tagen nicht wirklich funktioniert habe und Informationen noch nicht vorgelegen hätten. Doch mit der Unterschrift hätten die Mitglieder eingewilligt, von der Territorialen Verteidigung in die Armee – und damit an die Front – verlegt werden zu können. „Das war eine Überraschung und keine angenehme“, sagt Goncharov über die späte Erkenntnis und schiebt hinterher: „Aber jetzt ist das okay für sie.“ Nun wollten sie lediglich auch offiziell Teil der Armee werden, um entsprechende Absicherungen im Falle eine Verletzung oder gar des Todes zu haben.

Unter den 30 Kämpfern im Module Squad seien bisher zwar weder Frauen noch Angehörige der LGBT-Gemeinschaft. Doch engagierten sich die Mitglieder dafür, dass diese auf Wunsch in den Westen oder nach Polen fliehen können. Die Geflüchteten wiederum versuchten, die Kameraden an der Front zu unterstützen.

Kampf um Leben und Tod

Wofür sie nun kämpfen? „Zuerst: Wir haben den Krieg nicht angefangen“, wirft Goncharov ein, vergleicht den Krieg mit dem Kampf der Ukraine gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg und führt dann aus:

„Im Grunde kämpfen wir um unser Leben, für unseren ukrainischen Lebensstil. Wir verteidigen unsere Kultur, unsere Unabhängigkeit und unseren Lebensstil. Wir kämpfen einfach nur um unser Leben, um das Überleben – weil wir jetzt in großer Gefahr sind. Wir wollen frei sein.“

Teil einer europäischen Familie

Unter „ukrainischem Lebensstil“ verstehe er ein Leben in Freiheit mit der Möglichkeit, eigene Entscheidungen über Bündnisse und Partnerschaften zu treffen. Ukrainer:innen wollten auf niemanden hören müssen oder etwas aufgezwungen bekommen. „Das sind einfach grundlegende Freiheiten in allen Lebensbereichen“, erklärt Goncharov. Deshalb habe das Land bereits mehrere Revolutionen erlebt; kein Präsident bekleidete sein Amt bisher länger als vier Jahre. Der westliche Lebensstil habe dabei in den vergangenen Jahren den größten Zuspruch erfahren: „Ich fühle mich selbst als Europäer.“ Diese Werte wolle er auch als Teil einer europäischen Familie in der Ukraine vertreten.

Wie ein Module Club Dnipro unter russischer Kontrolle aussehen würde?

„Module ist keine Option, wenn die Russen kommen sollten, weil ich definitiv in den ersten Tagen als Teil der ukrainischen Kultur und wegen meiner Unterstützung für das Militär getötet werden würde“, ist Goncharov überzeugt: „Sie würden Leute wie mich bestimmt jagen.“

Er stehe nun vor der Wahl, zu sterben, als Aufständischer zu kämpfen oder vielleicht in eine sicherere Stadt zu flüchten. „Deswegen brauchen wir Waffen. Waffen kämpfen nicht, sondern Menschen. Waffen sind nur ein Mittel wie kugelsichere Westen und Helme“, argumentiert er.

Ein übermächtiger Gegner

Ohne internationale Hilfe könne die Ukraine nicht gegen einen übermächtigen Gegner wie Russland bestehen. Goncharov würdigt die bisherigen Bemühungen und durfte sich am Tag des Gesprächs erst über eine Förderung einer deutschen Institution freuen. „Ich kann wieder besseres Essen kaufen und meine Miete bezahlen“, atmet er auf und lacht.

Doch brauche sein Land leider mehr und langfristige Unterstützung. „Wir bitten nicht einmal, einen Fuß auf unseren Boden zu setzen und zu kämpfen. Aber bitte schickt wenigstens Waffen und unterstützt uns politisch mit Sanktionen gegen Russland. Das hilft uns schon viel“, richtet er sich an die internationale Gemeinschaft: „Vergesst uns nicht und unterstützt uns, wie ihr könnt.“ Denn Russland werde nicht aufhören, bis es durch die Ukraine zurückgedrängt werde. Und das könne nur auf dem Schlachtfeld passieren.

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